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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0084
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Stellenkommentar GM Vorrede 3, KSA 5, S. 249 65

249, 15-21 In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Prob-
lem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man
„halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen" hat, mein erstes litterarisches Kinder-
spiel, meine erste philosophische Schreibübung — und was meine damalige „Lö-
sung" des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und
machte ihn zum Vater des Bösen.] N. hat im Rahmen einiger „Memorabilia"
aus seinem Leben in NL 1878, KSA 8, 28[7], 505, 4-6 notiert: „Erste philosophi-
sche Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann
er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes)". Ein konkreter Zeitindex fehlt,
wann denn diese „erste philosophische Schrift" entstanden sein soll; sie findet
sich nicht in N.s Nachlass aus der Jugendzeit. Der Gedanke, den NL 1884,
KSA 11, 25[525], 150, 11-14 ohne autobiographischen Rückbezug ausspinnt,
nämlich Gott den Teufel als das Andere seiner selbst erschaffen zu lassen, erin-
nert an gnostische Theorien der Spätantike bis hin zu Jakob Böhme (vgl. z. B.
Baur 1835, 559 f.). In NL 1884, KSA 11, 26[390], 253, 15-20 wird die Erinnerung
von 1878 wieder aufgegriffen und zeitlich konkretisiert: „Als ich 12 Jahre alt
war, erdachte ich mir eine wunderliche Drei-Einigkeit: nämlich Gott-Vater,
Gott-Sohn und Gott-Teufel. Mein Schluß, war, daß Gott, sich selber denkend,
die zweite Person der Gottheit schuf: daß aber, um sich selber denken zu kön-
nen, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte. — Damit fieng
ich an, zu philosophiren." Hier scheint bei der ominösen Jugendabhandlung
noch eine innertrinitarische Spekulation und nicht die Theodizee-Frage im Vor-
dergrund gestanden zu haben. Je größer der zeitliche Abstand wird, desto stär-
ker konkretisiert sich die Erinnerung: „Der ersten Spur philosophischen Nach-
denkens, der ich, bei einem Überblick meines Lebens, habhaft werden kann,
begegne ich in einer kleinen Niederschrift aus meinem 13. Lebensjahre: diesel-
be enthält einen Einfall über den Ursprung des Bösen. Meine Voraussetzung
war, daß für einen Gott Etwas denken und Etwas schaffen Eins und Dasselbe
sei. Nun schloß ich so: Gott hat sich selbst gedacht, damals als er die zweite
Person der Gottheit schuf: um aber sich selber denken zu können mußte er
erst seinen Gegensatz denken. Der Teufel hatte also in meiner Vorstellung ein
ebensolches Alter wie der Sohn Gottes, sogar einen klareren Ursprung — und
dieselbe Herkunft. Über die Frage, ob es einem Gott möglich sei seinen Ge-
gensatz zu denken, half ich mir damit hinweg, zu sagen: ihm ist aber Alles
möglich. Und zweitens: daß er es gethan hat, ist eine Thatsache, falls die Exis-
tenz eines Gott-Sohns Thatsache ist, folglich war es ihm auch möglich, -"
(NL 1885, KSA 11, 38[19], 616, 12-26). Die Verarbeitung von GM Vorrede 3 lässt
die Beschwernis der trinitarischen Spekulation außen vor und fokussiert das
„Problem vom Ursprung des Bösen" (249, 16) - ob der Böse oder das Böse
gemeint ist, wenn Gott als „Vater des Bösen" (249, 21) angesprochen wird,
 
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