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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0093
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74 Zur Genealogie der Moral

Moral in die zweite Reihe verwiesen, um stattdessen eine Wertfrage als das
eigentlich Wichtige herauszustellen. Damit ist selbst freilich eine Wertung ver-
bunden, die ganz in der Tradition der (abendländischen) Moral steht, nämlich
Fragen der Werthaftigkeit für wichtiger zu halten als Fragen der Herkunft.
Wer die Frage nach dem Wert der Moral stellt, scheint bereits eine morali-
sche Frage zu stellen - allerdings hat sich der Wertbegriff in der Moralreflexion
erst im späteren 19. Jahrhundert fest eingebürgert. Explizit fragen N.s Texte nur
selten nach diesem Wert der Moral, so in W I 8, 36, 32-40 (KGW IX 5), wo es
den gegenwärtigen Philosophen zum Vorwurf gereicht, dass sie diese Frage
nicht stellen: „sie glauben alle, redlich, unbewußt, ungebrochen an den
Werth / dessen, was sie Moral nennen, das heißt, sie stehen unter deren Auto-
rität. Ja! Der / Werth der Moral! Nicht ihre Ableitung, Ableitbarkeit, psychologi-
sche Möglichkeit oder Unmög —/ lichkeit! Wird man es erlauben, daß hier Je-
mand das Wort nimmt, der gerade - 'über' an die= / sem Werthe zweifelt?
"Zweifel hat?'" (Die gesamte Notat-Seite ist in KGW IX einmal leicht durchge-
strichen; vgl. auch NL 1885/86, KSA 12, 2[203], 166, 22-26.) Die Wendung
„Werth der Moral" ist im 19. Jahrhundert ungebräuchlich und wird fast nur
verwendet, um auf ein in mehreren Auflagen erschienenes Werk des Aufklä-
rungstheologen Johann August Nösselt (1734-1807) zu verweisen, das die Wen-
dung bereits im Titel führt: Ueber den Werth der Moral, der Tugend und der
späten Besserung. Nösselts Buch unternimmt einen „Versuch über den wahren
Werth der Moral" (Nösselt 1777, 16), um diese gegen ihre Verächter zu verteidi-
gen. Eine Bekanntschaft N.s mit diesem Buch ist nicht belegt. Mit der Feder in
der Hand gelesen hat N. hingegen Olga Plümachers Pessimismus in Vergangen-
heit und Gegenwart. Bei ihr heißt es beispielsweise: „Es bestreitet nun aber der
philosophische Pessimismus nicht von ferne den Werth der Sittlichkeit für das
Dasein, da dieses nun einmal da ist, er bestreitet nur die Vernünftigkeit der
Annahme: es sei Zweck des Daseins, dass darin unter Leid und Schmerz Sitt-
lichkeit geübt werde." (Plümacher 1884, 277) Dazu gibt es eine Fußnote: „In
der ihm eigenthümlichen kühlen Weise, die es zuweilen liebt bei den wichtigs-
ten Erörterungen die Beispiele oder Gleichnisse dem alltäglichsten Leben zu
entnehmen, sagt [Eduard von] Hartmann: ,Die Behauptung, dass die Welt
da sei, um sich in ihr sittlich zu betragen, steht logisch genommen auf gleicher
Stufe mit derjenigen, dass ein Ball darum gegeben werde, damit /278/ die Gäste
Frack und weisse Binde anlegen und sich der Ballordnung gemäss benehmen."
(Ebd., 277 f., Fn.) N. hat die Worte „ihm eigenthümlichen kühlen" gestrichen
und am Rand stattdessen als Korrektur notiert: „abgeschmackten". Die Frage
nach dem Wert der Sittlichkeit, die Plümacher wiederholt anspricht (vgl. ebd.
260, 284), stellt sich im Horizont eines Pessimismus, dem zufolge die Welt bes-
ser nicht wäre und in der es auch keinen Grund zu geben scheint, sich in ihr
 
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