Stellenkommentar GM Vorrede 7, KSA 5, S. 254 81
von JGB der blaue Himmel in Kontrast zum grauen Gletscher tritt (vgl. NK
KSA 5, 241, 8-17). „[I]ns Blaue" auswuchernde Theoriebildung kritisiert explizit
auch Post 1884, 361, der die naiven Juristen im Blick hat (zitiert in NK 297, 25-
298, 1). Das Wortspiel in 254, 17-22 lebt von der Grauheit des Papiers, das die
Moralgeschichte dokumentiert, und der ,grauen Vorzeit', in die der Moralge-
nealoge hinabsteigen muss (vgl. Stingelin 2001, 177). NL 1873, KSA 7, 27[29],
595 kritisierte an Hegels Schreibstil noch „das nichtswürdigste Grau", wobei
es sich um eine Anspielung auf die Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie
des Rechts (1821) handeln könnte: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau
malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt
sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt
erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" (Hegel 1970, 7, 28). Dort
liegt das Grau also nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, wo
keine Handlungsoptionen mehr offenstehen, sondern nur noch der reflexive
Rückblick möglich ist. Berkowitz 1995, 68 argumentiert gegen Foucault 1978,
N. habe mit GM gerade nicht das Graue detaillierter Quellenstudien angestrebt,
sondern setze darin auf schroffes Schwarz-Weiß. Thiel 2017, 16 sieht in 254, 17-
22 exemplarisch N.s Weigerung ausgedrückt, wie seine Vorgänger „Geschichte
ohne Vergangenheit" zu schreiben. Gegen solche an die Gegenwart akkomodie-
rende Geschichtsschreibung sei GM insgesamt gerichtet.
Die ägyptischen Hieroglyphen, die metaphorisch für die zu dechiffrierende
Moralhistorie stehen, wurden noch nicht auf graues Papier gezeichnet; bei N.
sind sie ohnehin seltene Gäste. Jahrtausende lang hatte man sich vergeblich
um die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift bemüht; sie gelang
Jean-Frangois Champollion bekanntlich erst 1822.
254, 23 f. er hatte Darwin gelesen] Bereits in der Exposition des Ursprungs der
moralischen Empfindung wird der grundlegende Satz aufgestellt: „Die höheren
Thiere haben sich durch natürliche Zuchtwahl aus den niederen, die Menschen
sich aus den Affen entwickelt. / Auf eine Begründung dieses Satzes gehe ich
nicht ein. Denn ich halte ihn durch die Schriften Darwins [...] für bewiesen."
(Ree 1877, VIII = Ree 2004, 127) Namentlich zur Erklärung, wie „das unegoisti-
sche Handeln" zustande kommt, wird Darwin bemüht (Ree 1877, 7 f. = Ree
2004, 131 f.). Vgl. NK 250, 17-29 u. Beeckman 2008, 66.
254, 26 f. bescheidene Moral-Zärtling, der „nicht mehr beisst"] Im Druckmanu-
skript stand stattdessen: „kleinbürgerliche Zärtling und Bildungsphilister",
was von fremder Hand möglicherweise nach einer Anweisung N.s für den Ver-
leger verbessert wurde in: „kleinbürgerliche Genüßling und Stubenhocker"
(GSA 71/27,1, fol. 3v). Die Redensart „Der beisst nicht mehr", für die wohl be-
sonders domestizierte Raubtiere wie Hunde Anschauungsmaterial geliefert ha-
von JGB der blaue Himmel in Kontrast zum grauen Gletscher tritt (vgl. NK
KSA 5, 241, 8-17). „[I]ns Blaue" auswuchernde Theoriebildung kritisiert explizit
auch Post 1884, 361, der die naiven Juristen im Blick hat (zitiert in NK 297, 25-
298, 1). Das Wortspiel in 254, 17-22 lebt von der Grauheit des Papiers, das die
Moralgeschichte dokumentiert, und der ,grauen Vorzeit', in die der Moralge-
nealoge hinabsteigen muss (vgl. Stingelin 2001, 177). NL 1873, KSA 7, 27[29],
595 kritisierte an Hegels Schreibstil noch „das nichtswürdigste Grau", wobei
es sich um eine Anspielung auf die Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie
des Rechts (1821) handeln könnte: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau
malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt
sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt
erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" (Hegel 1970, 7, 28). Dort
liegt das Grau also nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, wo
keine Handlungsoptionen mehr offenstehen, sondern nur noch der reflexive
Rückblick möglich ist. Berkowitz 1995, 68 argumentiert gegen Foucault 1978,
N. habe mit GM gerade nicht das Graue detaillierter Quellenstudien angestrebt,
sondern setze darin auf schroffes Schwarz-Weiß. Thiel 2017, 16 sieht in 254, 17-
22 exemplarisch N.s Weigerung ausgedrückt, wie seine Vorgänger „Geschichte
ohne Vergangenheit" zu schreiben. Gegen solche an die Gegenwart akkomodie-
rende Geschichtsschreibung sei GM insgesamt gerichtet.
Die ägyptischen Hieroglyphen, die metaphorisch für die zu dechiffrierende
Moralhistorie stehen, wurden noch nicht auf graues Papier gezeichnet; bei N.
sind sie ohnehin seltene Gäste. Jahrtausende lang hatte man sich vergeblich
um die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift bemüht; sie gelang
Jean-Frangois Champollion bekanntlich erst 1822.
254, 23 f. er hatte Darwin gelesen] Bereits in der Exposition des Ursprungs der
moralischen Empfindung wird der grundlegende Satz aufgestellt: „Die höheren
Thiere haben sich durch natürliche Zuchtwahl aus den niederen, die Menschen
sich aus den Affen entwickelt. / Auf eine Begründung dieses Satzes gehe ich
nicht ein. Denn ich halte ihn durch die Schriften Darwins [...] für bewiesen."
(Ree 1877, VIII = Ree 2004, 127) Namentlich zur Erklärung, wie „das unegoisti-
sche Handeln" zustande kommt, wird Darwin bemüht (Ree 1877, 7 f. = Ree
2004, 131 f.). Vgl. NK 250, 17-29 u. Beeckman 2008, 66.
254, 26 f. bescheidene Moral-Zärtling, der „nicht mehr beisst"] Im Druckmanu-
skript stand stattdessen: „kleinbürgerliche Zärtling und Bildungsphilister",
was von fremder Hand möglicherweise nach einer Anweisung N.s für den Ver-
leger verbessert wurde in: „kleinbürgerliche Genüßling und Stubenhocker"
(GSA 71/27,1, fol. 3v). Die Redensart „Der beisst nicht mehr", für die wohl be-
sonders domestizierte Raubtiere wie Hunde Anschauungsmaterial geliefert ha-