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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0111
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92 Zur Genealogie der Moral

Selbstbewusstseins willen womöglich überhaupt „die allermeisten Menschen"
(MA I 63, KSA 2, 79, 3, vgl. NL 1877/78, KSA 8, 26[1], 486). Ausgeweitet wird
der Rahmen unter dem Eindruck von Ree 1875 sowie von La Rochefoucauld,
die den Menschen an sich durch den Nachweis der niederen Triebfedern seines
Handelns zu verkleinern trachteten. Dagegen werden im Namen der „Men-
schenfreundlichkeit" sehr wohl Bedenken vorgetragen (MA I 36, KSA 2, 59, 10-
24, vgl. NL 1876/77, KSA 8, 23[41], 418, 24-29). So könne es dem griechischen
Historiker Thukydides (vgl. NK KSA 6, 156, 15-32) zur Ehre angerechnet wer-
den, dass er „kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen" (M 168, KSA 3,
151, 4) sei. Später tritt demgegenüber der kulturdiagnostische Aspekt in den
Vordergrund, wonach die europäische Moderne im Zuge allgemeiner Demokra-
tisierung und Egalisierung - aber auch mit der kosmischen Marginalisierung
der Erde „seit Copernicus" (KGW IX 3, N VII 3, 127, 10 = NL 1886/87, KSA 12,
5[50], 203, 2) - die „Verkleinerung des Menschen" betrieben habe, wie es als
„Eindruck" Zarathustras in einer Vorarbeit zu Za heißt (NL 1883, KSA 10, 22[4],
629, 19). Ein anderes Notat befindet: „Die christlich-demokratische Denkweise
begünstigt das Heerden-Thier, die Verkleinerung des Menschen" (NL 1885,
KSA 11, 36[16], 557, 15-17, vgl. NL 1885, KSA 11, 36[48], 570, 27-30). Ausführlich
meldet sich die Zarathustra-Gestalt dazu in Za III Von der verkleinernden Tu-
gend, KSA 4, 211-217 zu Wort. Mit Zarathustras Rede ist die Frage allerdings
nicht abgetan, sondern rückt in den politischen Wirkungshorizont ein, den N.s
Spätschriften anstreben, und der mit weltgeschichtlichen Bagatellen wie dem
Deutschen Reich nichts zu schaffen haben soll: „Es giebt / wichtigere Dinge,
gegen welche gerechnet diese nationalen Fragen nur Vordergrunds-Fragen
sind / : z. B. das wachsende / Heraufkommen des demokratischen / Mannes u.
die dadurch bedingte Ver-/dummung Europas u. Verkleinerung / des europä-
ischen Menschen" (KGW IX 5, W I 8, 270, 36-38 u. 24-31 = NL 1885/86, KSA 12,
2[10], 70, 29-71, 2, vgl. KGW IX 5, W I 8, 263 = NL 1885/86, KSA 12, 2[13], 72).
Immerhin erscheint es schließlich dem philosophisch-politischen Agitator so-
gar möglich, mit der „Verkleinerung des M[enschen]" auch „ein breites Funda-
ment zu schaffen [...], damit eine stärkere / Art M[ensch] darauf stehen kann"
(KGW IX 6, W II 1, 121, 6-10 = NL 1887, KSA 12, 9[17], 346, 9-12; vgl. KGW IX 6,
W II 1, 27, 32-40 = NL 1887, KSA 12, 9[153], 425, 15-20). Vgl. NK 278, 14 f., NK
KSA 5, 182, 11-15 und NK KSA 5, 220, 30-221, 6 sowie hierzu ausführlich Brusot-
ti 1992b.
257, 25-258 2 Oder eine kleine unterirdische Feindschaft und Rancune gegen
das Christenthum (und Plato), die vielleicht nicht einmal über die Schwelle des
Bewusstseins gelangt ist?] Wenn die „englischen Psychologen" im scheinbar
Abwegigsten und Geringfügigsten, im schamhaft Verborgengehaltenen das
Movens menschlicher Entwicklung sehen, dann gehen sie auf Konfrontations-
 
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