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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0112
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Stellenkommentar GM 1 1, KSA 5, S. 257-258 93

kurs mit dem Christentum sowie mit Platon, die entweder den bewussten Wil-
len (der zur Sünde führt) oder aber den Geist zu diesem Movens erklären. In
JGB Vorrede wird vorgerechnet, dass „Plato's Erfindung vom reinen Geiste und
vom Guten an sich" der „schlimmste [...] aller Irrthümer" gewesen sei (KSA 5,
12, 16-18) - und dass überdies „Christentum [...] Platonismus für's ,Volk"' dar-
stelle (KSA 5, 12, 33 f. - in Abwandlung von Benjamin Disraelis Ausspruch,
Christentum sei Judentum fürs Volk - „Christianity is Judaism for the multitu-
de, but still it is Judaism." Disraeli 1866, [2: Tancred], 299. Zur Kritik von N.s
Formel vgl. Gillespie 2017, 174). Die Pointe von 257, 25-258 2 besteht darin, dass
diese mutmaßliche Ablehnung platonisch-christlicher Prämissen bei den in
GM I 1 ihrerseits psychologisierten „englischen Psychologen" gleichfalls unbe-
wusst bleibt.
Die Wendung „Schwelle des Bewusstseins" kommt bei N. nur hier vor.
Brobjer 2001, 420 bemerkt zu Recht, dass Höffding sich ihrer exzessiv bedient.
„Um das gegenseitige Verhältnis der Empfindungen zu messen, bedarf es einer
Einheit, und Fechner schlug als solche eine Empfindung so geringen Stärke-
grades vor, daß sie gerade eben zu merken ist, oder wie sich Fechner (mit einer
von Herbart entlehnten Bezeichnung) ausdrückt, dass sie sich eben über die
Schwelle des Bewusstseins erhebt." (Höffding 1887, 27 f. Von N. mit Randstrich
markiert.) Ebd., 103 heißt es lapidar: „Wir können uns deshalb keine Vorstel-
lung von der Beschaffenheit solcher Formen des Seelenlebens bilden, die nied-
riger liegen, als was uns die Schwelle des Bewusstseins ist." Ausführlich vom
Senken und Heben der Bewusstseinsschwelle handelt ebd., 135, vgl. überdies
ebd., 60, 88, 91, 99, 131, 138, 177, 197, 209, 227 u. 297.
258, 2-4 Oder gar ein lüsterner Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft-
Paradoxen, am Fragwürdigen und Unsinnigen des Daseins?] In NL 1880, KSA 9,
3[20], 52, 10 f. u. 19 wird hervorgehoben, dass die antike „Bildung" zu „parado-
xensüchtig" gewesen sei, um nicht das Christentum „als große Pöbel-Bewe-
gung des römischen Reichs" mit seinen absurden Lehren anziehend zu finden.
Wiederholt machen N.s spätere Werke darauf aufmerksam, dass sich das Chris-
tentum mit Hilfe seiner extremsten Parodoxie, nämlich der Vorstellung von
einem „Gott am Kreuze" im Römischen Reich durchgesetzt habe, vgl. NK 269,
13-18. Dieser elitär-dekadente „Geschmack [...] am Schmerzhaft-Paradoxen"
scheint sich nach 258, 2-4 auch unter Wissenschaftlern der Gegenwart breitzu-
machen, wenn sie das schamhaft Verborgene am Menschen zur Hauptsache
erheben, aus der heraus sie sein Handeln erklären.
258, 7-10 Aber man sagt mir, dass es einfach alte, kalte, langweilige Frösche
seien, die am Menschen herum, in den Menschen hinein kriechen und hüpfen,
wie als ob sie da so recht in ihrem Elemente wären, nämlich in einem Sumpfe.]
 
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