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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0113
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94 Zur Genealogie der Moral

Dieses „man" ist Harald Höffding, der aus seinen Vorbehalten gegen die Aus-
wüchse der „englischen Psychologie" keinen Hehl macht und sich dabei zwar
nicht der Froschmetaphorik bedient, dafür aber häufiger auf Experimente mit
Fröschen zu sprechen kommt (vgl. z. B. Höffding 1887, 47-49 u. NK 374, 13-
15). Frösche und Sümpfe sind sprichwörtlich aneinandergekoppelt, vgl. z. B.
Wander 1867-1880, 1, 1229 („Ein Frosch, der an den Sumpf gewöhnt, bleibt
nicht auf dem Berge") sowie zur altgriechischen Sumpfallegorik NK KSA 6,
44, 9-11. Bereits Zarathustra verwendet die Froschmetaphorik in Za II Von den
Gelehrten zur abwertenden Charakteristik derselben: „Geben sie sich weise, so
fröstelt mich ihrer kleinen Sprüche und Wahrheiten: ein Geruch ist oft an ihrer
Weisheit, als ob sie aus dem Sumpfe stamme: und wahrlich, ich hörte auch
schon den Frosch aus ihr quaken!" (KSA 4, 161, 13-16).
258, 13-19 wenn man wünschen darf, wo man nicht wissen kann, so wünsche
ich von Herzen, dass es umgekehrt mit ihnen stehen möge, — dass diese Forscher
und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, grossmüthige und stolze Thiere
seien, welche ihr Herz wie ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und sich
dazu erzogen haben, der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern, jeder Wahr-
heit, sogar der schlichten, herben, hässlichen, widrigen, unchristlichen, unmorali-
schen Wahrheit...] Das Reden über die „Forscher" als Tiere knüpft an die
Frosch-Personifikation von 258, 7 f. an - um sie ins Gegenteil zu wenden, denn
das „Ich" gibt nun der Hoffnung Ausdruck, es möge sich „im Grunde" doch um
„tapfere, grossmüthige und stolze Thiere" handeln. Damit behält der Sprecher
einen ironisierenden und distanzierenden Blick bei, mit dem er sich einerseits
selbst als „Mikroskopiker" präsentiert, andererseits aber den Verdacht schürt,
er selbst gebe sich womöglich illusionären „Wünschbarkeit[en]" hin. Dass der
Mensch als Tier unter Tieren zu betrachten sei, wird in N.s Spätwerk öfter wie-
derholt (vgl. z. B. AC 14, dazu NK 6/2, S. 83-86 und Sommer 2015g); hier dient
diese anthropologische Desillusionierung, die auch schon in WL 1 (vgl. NK
KSA 1, 875, 2-11) begegnet, dazu, eine Identifikation des Lesers mit diesen
„Forschern" zu erschweren - trotz des Zugeständnisses, die unterstellte negati-
ve Motivation der englischen Psychologen sei womöglich viel positiver zu fas-
sen, und diese seien gar keine „Frösche".
Das Ende von GM I 1 zehrt von zwei lustvoll inszenierten Paradoxen: Ers-
tens davon, dass das sprechende „Ich" ausdrücklich als Wünschender auftritt,
während sich die Forscher ja dazu „erzogen" haben könnten, allen Wünschen
und Wünschbarkeiten zu entsagen und also im Unterschied zum sprechenden
„Ich" die eigentlichen Wissenschaftler sind (zur Logik der Wünschbarkeit siehe
NK KSA 5, 56, 21-25). Dennoch scheint auch dieses „Ich" mit der Evokation von
„Wahrheiten" einem wissenschaftlichen Ideal verpflichtet zu sein (vgl. NK 258,
19). Zweitens lebt 258, 13-19 vom Paradox, dass in der neuerlichen Rekonstruk-
 
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