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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0119
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100 Zur Genealogie der Moral

Resonanzlosigkeit seiner Werke behagt zu haben. Zum Zusammenhang des
vornehmen Namensgebungsanspruchs mit dem Pathos der Distanz auf dem
Hintergrund von Schmidt 1882b siehe Brusotti 1992b, 121 f.
260, 9-12 Vielmehr geschieht es erst bei einem Niedergange aristokratischer
Werthurtheile, dass sich dieser ganze Gegensatz „egoistisch" „unegoistisch" dem
menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt] GM I 2 versucht, die Binarität
von Egoismus und Un-Egoismus selbst als etwas historisch Gewordenes, ge-
nauer: als moralgeschichtliches (Dekadenz-)Phänomen herauszustellen, an-
statt diese Opposition als natürlicherweise gegeben anzusetzen, wie dies die
,Engländer' tun. Eine Person oder eine Handlung als „egoistisch" zu charakte-
risieren (und damit moralisch zu verurteilen), setzt also schon voraus, dass
man die fragliche Binarität als gültig akzeptiert und sich damit einem Moral-
Code unterwirft, der gerade in seiner Historizität entlarvt und in seiner Gültig-
keit hinterfragt werden soll. Bergmann 1994, 77 macht geltend, dass N. nie eine
Dichotomie von Egoismus und Moralität als natürliche Gegebenheit postuliert
habe, während Owen 2009, 198 argumentiert, dass N. mit seinem Einwand in
260, 9-12 die von Kant hergebrachte Rahmung des Moralproblems habe aufbre-
chen wollen. Sonderbar muten dagegen manche sekundärliterarischen Debat-
ten darüber an, welche Form von Egoismus man denn N. zuschreiben könne
(Swanton 2011 schlägt beispielsweise vor, da von einem „mature egoism" zu
sprechen), wenn sie ausblenden, wie sehr GM I 2 bereits die Unterscheidung
von egoistisch/unegoistisch für ein moralgeschichtliches Spätphänomen und
keineswegs für eine irgendwie universelle Gegebenheit hält.
260, 12-14 es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen, der Heerdenins-
tinkt, der mit ihm endlich zu Worte (auch zu Worten) kommt] Mit der in den
Werken der 1880er Jahre frequenten Metapher der Herde pflegte N. die Lebens-
und Denkweise der breiten Bevölkerungsmassen zu umreißen. Die Metapher
zehrt von der seit Platon geläufigen Suggestion, die Herde bedürfe eines sie
leitenden Hirten (vgl. z. B. Politeia 459d, vgl. zur Pastoralfiguration als einer
seit der Antike fundamentalen politischen Leitunterscheidung Bröckling 2017,
15-44 im Anschluss an N. und Foucault). Die Gedankenfigur des menschlichen
Herdentiers hat N. beispielsweise bei Francis Galton (Galton 1883, 72 f., vgl.
Haase 1989, 647 f. und NK 383, 32 f.), aber vielleicht auch bei Herbert Spencer
weiterentwickelt gefunden (vgl. Fornari 2009, 125-156) und insbesondere in Al-
fred Espinas' Buch Die thierischen Gesellschaften (z. B. Espinas 1879, 126). In
JGB 199-203, KSA 5, 119-128 werden die Überlegungen zur Herdenmoral breiter
entfaltet; auch ein Zusammenhang von Instinkt und Herde wird behauptet,
vgl. NK 5/1, S. 536-538. Bereits vor der Galton-Lektüre ist der „Heerden-
Instinct" bei N. sehr geläufig, vgl. z. B. FW 1, FW 50, FW 116-117, FW 296 und
 
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