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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0122
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Stellenkommentar GM I 4, KSA 5, S. 261 103

lung" „ursprünglich" die „der größten Zweckmäßigkeit" gewesen sei. N.s Mar-
ginalie dazu: „Im Gegentheil: zuletzt!").
4.
In GM I 4 meldet sich ein „ich" (261, 21) zu Wort, das nun seine eigene moral-
historische These formuliert - und zwar auf Grundlage der Etymologie, die
offenbar in vielen Sprachen analoge Entwicklungen zeigt: Der Begriff des Gu-
ten sei aus dem des Edlen und Vornehmen entstanden, der des Schlechten aus
dem Niedrigen und Pöbelhaften. Diese sprachgeschichtlichen Evidenzen zu er-
kennen, habe freilich „das demokratische Vorurtheil innerhalb der modernen
Welt" (262, 6 f.) bis heute verhindert. Henry Thomas Buckle muss am Ende des
Abschnitts als Repräsentant dieses Vorurteils herhalten.
261, 18-262, 4 Den Fingerzeig zum rechten Wege gab mir die Frage, was ei-
gentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgeprägten Bezeichnungen des
„Guten" in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich, dass sie
allesammt auf die gleiche Begriffs-Verwandlung zurückleiten, — dass
überall „vornehm", „edel" im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem
sich „gut" im Sinne von „seelisch-vornehm", „edel", von „seelisch-hochgeartet",
„seelisch-privilegirt" mit Nothwendigkeit heraus entwickelt: eine Entwicklung, die
immer parallel mit jener anderen läuft, welche „gemein", „pöbelhaft", „niedrig"
schliesslich in den Begriff „schlecht" übergehen macht. Das beredteste Beispiel
für das Letztere ist das deutsche Wort „schlecht" selber: als welches mit
„schlicht" identisch ist — vergleiche „schlechtweg", „schlechterdings" — und ur-
sprünglich den schlichten, den gemeinen Mann noch ohne einen verdächtigenden
Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des
dreissigjährigen Kriegs ungefähr, also spät genug, verschiebt sich dieser Sinn in
den jetzt gebräuchlichen.] M 231 hatte noch gegen den angeblich verkommenen
„Geschmack" des deutschen Volkes polemisiert, „als es das Schlichte als
das Schlechte, den schlichten Mann als den schlechten Mann abschätzte!
Man soll dem moralischen Hochmuthe der Deutschen immer diess Wörtlein
,schlecht' und Nichts weiter entgegenhalten!" (KSA 3, 198, 5-10, vgl. NK 3/1,
S. 301) Damals galt N. die Nähe von „schlicht" und „schlecht" als eine deut-
sche Spezialität, um niedrigere Bevölkerungsgruppen zu diffamieren (vgl.
NL 1880, KSA 9, 3[134], 92). In GM I 4 und im Notat NL 1883, KSA 10, 16[27],
508 bildet die deutsche Sprache hingegen keine Ausnahme, sondern bestätigt
eine angebliche Regel, wonach sich aus der vornehmen ständischen Selbstbe-
zeichnung die Begrifflichkeit für das Gute und aus der Bezeichnung für die
Niedriggestellten die Begrifflichkeit für das Schlechte ergeben hätten. Diese
 
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