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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0156
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Stellenkommentar GM I 7, KSA 5, S. 266 137

dass diese reine physische Überlegenheit in menschlichen Gesellschaften auf
Dauer irgendein Machtübergewicht sichert: Die Schlauen übertrumpfen - bei
Hominini wie bei anderen Primaten, denen N. in der darwinistischen Literatur
seiner Zeit begegnen konnte - die tumben Kraftprotze regelmäßig mit Leichtig-
keit und sichern sich die Vorherrschaft.
GM I 7 reproduziert die seit der Reformation verbreitete, in der Aufklärung
universalisierte Priester-Kritik und gibt diese Priester-Karikatur als historische
Wahrheit aus; manches klingt nach einer in die nicht näher spezifizierte Ver-
gangenheit projizierten, säkularisierten Kulturkampf-Rhetorik, die von preu-
ßisch-protestantischer Seite die ohnmächtig-rachsüchtige Heimtücke der (ka-
tholisch-ultramontanen) Priester anzuprangern pflegte. Bei Hellwald 1876a-
1877a, 1, 258, wird zwar - nicht ohne antisemitischen Zungenschlag - im Blick
auf die Assyrer behauptet, „wie gewöhnlich bei den Nationen semitischer Her-
kunft mischt sich mit der Grausamkeit gegen Feinde der Fanatismus des Religi-
onshasses", jedoch handelt es sich dabei keineswegs um den Hass eines Stan-
des auf einen anderen innerhalb eines Volkes. Schon bei Espinas 1879, 525 hat
N. die folgende Stelle mit doppeltem Randstrich markiert: „Und man kann es
als allgemeines Gesetz hinstellen, dass die Klarheit, mit welcher ein sociales
Bewusstsein sich setzt, von der Stärke seines Hasses gegen das Fremde direct
abhängt." Diese allgemeine anthropologische Behauptung erklärt aber noch
immer nicht, warum die Priester von ihm so exklusiv heimgesucht worden sein
sollen. Aufschlussreicher ist da Jean-Marie Guyaus Werk L'irreligion de l'avenir,
das N. in der zweiten Jahreshälfte 1887 intensiv studiert hat. Dort wird zu-
nächst einmal festgestellt, dass es „das Gefühl des Hasses, der Rache, der Stra-
fe" („le sentiment de la haine, de la vengeance, de la punition") sei, das sich
in der Sphäre der Geister zu befriedigen suche (Guyau 1887, 57). Die Vorstellung
von der ewigen Verdammnis sei das „Erbe des Hasses" einer wilden Frühzeit-
gesellschaft (ebd., 89, von N. mit Randstrich markiert). Eine Passage, die es als
„unzerstörbare Barbarei" und als „theologisches Element" brandmarkt, wie der
in Gott hineinprojizierte, animalische Racheinstinkt in die Liebesmoral einge-
drungen sei, quittiert N. am Rande, je nach Lesart, mit „Unsinn" oder „Unfug"
(ebd., 161. Dazu vom Buchbinder angeschnittene, schwer lesbare Randbemer-
kung von N.s Hand: „gerade da ist [?] der Rest [?] von Natur"). „Cette note
d'indelebile barbarie, qui eclate au milieu des paroles les plus aimantes, ce
retour offensif de l'instinct animal de vengeance transporte ä Dieu, montre le
danger de l'element theologique introduit dans la morale de l'amour." (Ebd.,
161, N.s Unterstreichungen. „Dieser Klang unauslöschlicher Barbarei, die in-
mitten der liebevollsten Worte aufbricht, diese erneute Rückkehr des tierischen
Racheinstinktes, die auf Gott übertragen wird, zeigt die Gefahr des theologi-
schen Elements, das in die Moral der Liebe eingeführt wurde.") Und aus der
 
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