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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0167
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148 Zur Genealogie der Moral

einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-
Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb", zu einem „Anders", zu einem
„Nicht-selbst": und dies Nein ist ihre schöpferische That.] Der in der Moralkritik
von N.s Spätwerk zentral werdende Begriff des Ressentiments (vgl. NK KSA 6,
70, 21) taucht hier zum ersten Mal in einem Werk N.s auf. N. hat ihn bereits im
Nachlass von 1875 aus Eugen Dührings Werth des Lebens aufgenommen: „Das
Rechtsgefühl ist ein Ressentiment, gehört mit der Rache zusammen: auch die
Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit geht auf das Rachegefühl
zurück." (NL 1875, KSA 8, 9[1], 176, 17-19) Die Passage, auf die sich N. hier
bezieht, lautet: „Ein einzelner Fall dieses Gebiets ist die Vergeltungsidee, d. h.
die Vorstellung von einer jenseitigen Gerechtigkeit. Die Conception des Rechts
und mit ihr alle besondern Rechtsbegriffe haben ihren letzten Grund in dem
Vergeltungstriebe, der in seiner höhern Steigerung Rache heisst. Das Rechtsge-
fühl ist wesentlich ein Ressentiment, eine reactive Empfindung, d. h. es gehört
mit der Rache in dieselbe Gefühlsgattung." (Dühring 1865, 219, N.s Unterstrei-
chungen) Dühring, der das Wort „Ressentiment" im Werth des Lebens nur spar-
sam verwendet, würdigt es keiner Definition. Es bezeichnet bei ihm im Wort-
sinn ein Wieder-Gefühl - ein Gefühl, das als Reaktion auf eine Beeinträchti-
gung auftritt: Dass „dem Menschen eine Verletzung widerfahre, zeigt ihm
ursprünglich nur das Ressentiment an" (ebd., 222, N.s Unterstreichung, vgl.
auch ebd., 232). Zudem stellt Dühring wiederholt heraus, „dass das Rachege-
fühl das Fundament sei, auf welchem der ganze Bau aller unserer Rechtsbegrif-
fe ruht" (ebd., 222, N.s Unterstreichung) - eine Vorstellung, die N.s heftigen
Widerspruch provoziert, weil sie Gerechtigkeit auf Reaktivität einschränkt. Auf
die ursprünglich Dühringsche Inspiration von N.s Rückgriff auf den Ressenti-
mentbegriff hat die Forschung wiederholt aufmerksam gemacht und ausgiebig
die Differenzen zwischen Dührings und N.s späterem Wortgebrauch diskutiert
(vgl. Small 2001, 171-180; Brusotti 2001, 121 f.; Venturelli 2003, 203-237; Stelli-
no 2008, 248-250; Paschoal 2011 u. Hödl 2014, 275 f.). Merkwürdig ist aller-
dings, dass N. den Ausdruck nach der Dühring-Lektüre acht Jahre lang über-
haupt nicht mehr verwendet, und er zunächst nur im Brief an Köselitz vom
26. 08. 1883 auftaucht, in dem N. von seinen eigenen Empfindungen berich-
tet - er sei ein Jahr lang zu Gefühlen gedrängt worden, über die er glaubte
erhaben zu sein, nämlich „Rachegefühle und ,ressentiment's'" (KSB 6/
KGB III 1, Nr. 457, S. 435, Z. 14 f., vgl. dazu Lupo 2015). „Ressentiment" ist im
zeitgenössischen deutschen Sprachgebrauch schon vor Dühring so geläufig,
dass es auch in dem von N. benutzten Handbuch der Fremdwörter in der deut-
schen Schrift- und Umgangsprache von Friedrich Erdmann Petri aus dem Jahr
1861 verzeichnet ist, dort - ebenfalls schon als Neutrum und nicht wie im Fran-
zösischen als Maskulinum! - übersetzt als „die Nachempfindung, Empfindlich-
 
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