Stellenkommentar GM I 10, KSA 5, S. 270-271 151
vermutlich eine Inspiration des amerikanischen Publizisten Mike Adams auf-
greifend - „Resentment Studies" als typenbildend für gegenwärtige Geistes-
und Sozialwissenschaften ausweist: „Damit ist leider nicht gemeint, dass das
Ressentiment erforscht würde, sondern umgekehrt, dass das Ressentiment die
Forschungen antreibt. Das Spektrum reicht von den Black Studies in den USA
bis zum Radikalfeminismus und Antikolonialismus. Dabei dient die politische
Korrektheit als der große Katechismus. Aller Hass ist auf die Besserverdienen-
den ohne Migrationshintergrund konzentriert." Aus dem Anfang von GM I 10
bezieht Jampolsky 2014 sein methodisches Rüstzeug, um die seines Erachtens
von Ressentiment und „Sklaven-Moral" bestimmten Tiefenschichten der ge-
genwärtigen russischen Gesellschaft zu ergründen. Zur Fruchtbarkeit der Res-
sentimentdiagnose in der heutigen Politik siehe auch Breithaupt 2017, der Em-
pathie und Ressentiment einander annähert; zum Begriff des Ressentiments im
Abgleich mit gegenwärtigen Theorien, Normativität zu begründen, vgl. Risse
2003b.
271, 4-7 die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen-
und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um über-
haupt zu agiren, — ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion.] Der Frage, inwiefern
für Leben äußere Reize konstitutiv sind, widmen sich von N. gelesene natur-
wissenschaftliche Autoren (vgl. zum Begriff der Auslösung NK 264, 21-27). De-
ren Überlegungen flossen in kulturdiagnostische Erörterungen N.s ein, etwa in
JGB 200 bei der Schilderung, wie auf manche Starken „Gegensatz und Krieg
[...] wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr" (KSA 5, 121, 5-7) wirken. Hier wird
der N. aus Wilhelm Roux' Der Kampf der Theile im Organismus geläufige Ge-
danke transponiert, wonach die „Lebenskraft" von Zellen durch „die Zufuhr
von verschiedenen oder blos einem besonderen Reiz erhöht" werde, wobei grö-
ßere Reizaufnahmefähigkeit größere Vitalität indiziere (Roux 1881, 80 f.). In
diesem Schema bemisst sich Stärke also daran, Reize aufnehmen und verarbei-
ten zu können. Unter dem Eindruck konkurrierender Lektüren verkehrt sich
in N.s Spätwerk diese Sichtweise ins Gegenteil: Nun gilt mit Charles Fere das
Vermögen, auf Reize gerade nicht zu reagieren, als Zeichen der Stärke (vgl.
Fere 1887, 133; NK KSA 6, 83, 20 f.; NK KSA 6, 109, 3-5; NK KSA 6, 292, 27-31
und NK KSA 6, 292, 32-293, 13).
Die Denunziation der Sklavenmoral in GM I 10 zehrt wesentlich von der
Suggestion, dass eine ursprüngliche Spontaneität möglich sei, also ein selbst
nicht bedingtes Handeln aus reinem inneren Antrieb heraus. Diese Suggestion
dürfte auf deutsche Leser einigen Eindruck gemacht haben, entspricht sie doch
Kants Idee der Freiheit, die jenseits einer rein kausalmechanisch determinier-
ten Erscheinungswelt in der Sphäre reiner praktischer Vernunft ihren Ort hat.
Die Idee einer solchen durch nichts bedingten und bestimmten Spontaneität
vermutlich eine Inspiration des amerikanischen Publizisten Mike Adams auf-
greifend - „Resentment Studies" als typenbildend für gegenwärtige Geistes-
und Sozialwissenschaften ausweist: „Damit ist leider nicht gemeint, dass das
Ressentiment erforscht würde, sondern umgekehrt, dass das Ressentiment die
Forschungen antreibt. Das Spektrum reicht von den Black Studies in den USA
bis zum Radikalfeminismus und Antikolonialismus. Dabei dient die politische
Korrektheit als der große Katechismus. Aller Hass ist auf die Besserverdienen-
den ohne Migrationshintergrund konzentriert." Aus dem Anfang von GM I 10
bezieht Jampolsky 2014 sein methodisches Rüstzeug, um die seines Erachtens
von Ressentiment und „Sklaven-Moral" bestimmten Tiefenschichten der ge-
genwärtigen russischen Gesellschaft zu ergründen. Zur Fruchtbarkeit der Res-
sentimentdiagnose in der heutigen Politik siehe auch Breithaupt 2017, der Em-
pathie und Ressentiment einander annähert; zum Begriff des Ressentiments im
Abgleich mit gegenwärtigen Theorien, Normativität zu begründen, vgl. Risse
2003b.
271, 4-7 die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen-
und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um über-
haupt zu agiren, — ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion.] Der Frage, inwiefern
für Leben äußere Reize konstitutiv sind, widmen sich von N. gelesene natur-
wissenschaftliche Autoren (vgl. zum Begriff der Auslösung NK 264, 21-27). De-
ren Überlegungen flossen in kulturdiagnostische Erörterungen N.s ein, etwa in
JGB 200 bei der Schilderung, wie auf manche Starken „Gegensatz und Krieg
[...] wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr" (KSA 5, 121, 5-7) wirken. Hier wird
der N. aus Wilhelm Roux' Der Kampf der Theile im Organismus geläufige Ge-
danke transponiert, wonach die „Lebenskraft" von Zellen durch „die Zufuhr
von verschiedenen oder blos einem besonderen Reiz erhöht" werde, wobei grö-
ßere Reizaufnahmefähigkeit größere Vitalität indiziere (Roux 1881, 80 f.). In
diesem Schema bemisst sich Stärke also daran, Reize aufnehmen und verarbei-
ten zu können. Unter dem Eindruck konkurrierender Lektüren verkehrt sich
in N.s Spätwerk diese Sichtweise ins Gegenteil: Nun gilt mit Charles Fere das
Vermögen, auf Reize gerade nicht zu reagieren, als Zeichen der Stärke (vgl.
Fere 1887, 133; NK KSA 6, 83, 20 f.; NK KSA 6, 109, 3-5; NK KSA 6, 292, 27-31
und NK KSA 6, 292, 32-293, 13).
Die Denunziation der Sklavenmoral in GM I 10 zehrt wesentlich von der
Suggestion, dass eine ursprüngliche Spontaneität möglich sei, also ein selbst
nicht bedingtes Handeln aus reinem inneren Antrieb heraus. Diese Suggestion
dürfte auf deutsche Leser einigen Eindruck gemacht haben, entspricht sie doch
Kants Idee der Freiheit, die jenseits einer rein kausalmechanisch determinier-
ten Erscheinungswelt in der Sphäre reiner praktischer Vernunft ihren Ort hat.
Die Idee einer solchen durch nichts bedingten und bestimmten Spontaneität