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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0184
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Stellenkommentar GM I 11, KSA 5, S. 274 165

entwegter Blutrünstigkeit gegen Ihresgleichen vorzustellen (und schildern bei-
spielsweise die homerischen Epen die Helden nicht oft eher so als bestimmt
von „Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn"?). Was sollte einen Starken zu
solcher Dämpfung der eigenen gewalttätigen Instinkte treiben - und würde es
nicht im Gegenteil von Niedrigkeit und Gemeinheit zeugen, seine Aggression
statt gegen Ebenbürtige gegen Schwächere zu richten, unter diesen wie „losge-
lassne Raubthiere" zu wildern, was weder einen Zug von Vornehmheit noch
von besonderer Stärke verrät? Auffällig ist übrigens, dass die Vornehmen zu-
nächst nicht mit Raubtieren identifiziert werden, sondern bloß ihr Verhalten,
das „nach Aussen hin" „nicht viel besser" sei als das „losgelassne[r] Raubthie-
re". Erst bei der drastischen Schilderung, wie sie wüten, findet dann über
„frohlockende Ungeheuer" bis hin zur „blonde[n] Bestie" (275, 11) eine
direkte Gleichsetzung statt: Es handelt sich also nicht um natürliche Raubtiere,
sondern um Menschen, die sich in Raubtiermanier Genugtuung dafür verschaf-
fen, unter Ihresgleichen „eine lange Einschliessung und Einfriedigung" erdul-
det zu haben. Das Raubtier-Sein ist demnach im Unterschied etwa zu Hobbes
hier nicht der menschliche Naturzustand („utrumque vere dictum est, Homo
homini Deus, & Homo homini Lupus". Hobbes 1657, Bl. *2 verso. „Beides ist wahr
gesagt: Der Mensch ist dem Menschen ein Gott, und der Mensch ist dem Men-
schen ein Wolf'). Weder wird hier (sozial-)darwinistisch argumentiert, noch
im Gefolge Schopenhauers eine allgemeine anthropologisch applizierte Theo-
rie eines allumfassenden Kampfes als Ausdruck des blinden Willensringens
propagiert: „Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in
der Thierwelt, [...] indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige
Aufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durch-
gängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nah-
rung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht [...] in sich selbst jenen Kampf,
jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart,
und homo homini lupus wird." (Schopenhauer 1873-1874, 2, 175. Vgl. auch
Dühring 1875a, 208, der die menschliche Raubtiernatur nicht für dominant
hält: „Der Mensch ist für den Menschen nur insoweit ein Wolf, als er in der
besondern Charaktermischung, die nicht der Gattung als solcher wesentlich
ist, das Raubthier besonders ausgeprägt enthält. Uebrigens ist er ein gutartiges
Wesen; denn alle die verleumdeten Triebe und Leidenschaften, die der Gattung
thatsächlich und nothwendig zukommen, sind Einrichtungen, die den gegen-
seitigen Verkehr regeln.") Das raubtierhafte Verhalten ist in GM I 11 vielmehr
eine Folge des rigiden Zwanges, der den Vornehmen unter Seinesgleichen of-
fensichtlich einpfercht - seine Gewaltsamkeit ist weniger Natur, als „Entla-
dung" (275, 12) einer lange aufgestauten und nicht ausagierten Kraft. Mit einer
solchen Schilderung entgeht N.s Text zwar den Dilemmata der herkömmlichen
 
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