Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0186
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GM I 11, KSA 5, S. 274-275 167

verkennen: es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entla-
dung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurück: — römi-
scher, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandi-
navische Wikinger — in diesem Bedürfniss sind sie sich alle gleich.] Das Schlag-
wort der „blonden Bestie" hat in der populären N.-Rezeption große Karriere
gemacht; entgegen dem deskriptiv-historischen Gebrauch, den GM I 11 im Blick
auf die Vergangenheit der Menschheit davon macht, ist immer wieder sugge-
riert worden, N. propagiere die „blonde Bestie" als eine Art rassistisch-germa-
nisches Ideal und identifiziere den „Übermenschen" mit ihr. Dabei benutzte N.
die Wendung nur in GM I 11 sowie in GD Die „Verbesserer" der Menschheit 2
(vgl. NK KSA 6, 99, 19), wobei er sie im GM-Druckmanuskript ursprünglich
mit - später dann gestrichenen - Anführungszeichen versehen hatte (GSA 71/
27,1, fol. 13r). Sie indiziert weder einen exklusiv-phänotypischen Bezug auf die
blonden Germanen, obwohl in 276, 2 ausdrücklich von „der blonden germani-
schen Bestie" die Rede ist: Römer, Araber und Japaner (275, 13.f) sind ja aus-
drücklich mit angeführt (vgl. Wotling 1995, 290 f.), noch rechtfertigt ihr selte-
nes Auftreten die Aufmerksamkeit, die die populäre (und namentlich politisch
interessierte) N.-Rezeption der „blonden Bestie" zollt: Wohl keine andere Wort-
fügung N.s ist von seiner Nachwelt derart überstrapaziert worden - wobei, wie
Brennecke 1976, 130-139 und Ottmann 1999, 255 herausstellen, die barbari-
schen Nordländer bereits in der Antike mit dem blonden, wilden Tier, der flava
bestia, dem Löwen assoziiert worden sind (zu Platon: Gorgias 483e und Thuky-
dides: Der Peloponnesische Krieg II 39 sowie weiteren möglichem modernen
Quellen vgl. NK KSA 6, 99, 19). In GM I 5 wird die Blondheit der Arier, der
Germanen und der Kelten wiederholt angesprochen, siehe NK 263, 18-21;
NK 263, 21-25 und NK 263, 25 f., während GM Vorrede 7, KSA 5, 254, 25 f. „die
Darwin'sche Bestie" aufruft und JGB 257 die archaischen „Raubmenschen" und
„Bestien" als Triebkräfte der Kulturentwicklung thematisiert (vgl. NK KSA 5,
205, 20-206, 10). Auch Hellwald 1876a-1877a, 2, 408 meinte lapidar: „Alle Civi-
lisation der Welt vermag die Bestie im Menschen nicht zu ersticken." (Vgl. NK
KSA 6, 99, 5 f.) Dazu liefert Emile Zola in Le ventre de Paris die literarische
Illustration, wenn er von der „grosse brüte blonde", dem großen, blonden Un-
geheuer berichtet, das in der französischen Hauptstadt des Zweiten Kaiserrei-
ches Blutbäder anrichtet - indem es dutzendweise Tauben schlachtet (Zola
1873, 331). Vom „,wilden grausamen Thiere"' (JGB 229, KSA 5, 165, 22), das der
Mensch ursprünglich gewesen sein soll, bevor er domestiziert wurde, ist der
späte N. noch fasziniert, wozu auch Lektüren beigetragen haben mögen, die
nicht eigentlich historischen oder ethnographischen Inhalts sind. So empfiehlt
Paul Bourget in seinem Essai über Stendhal, jene Passagen aus Le rouge et le
noir wieder zu lesen, wo der Protagonist Julien Sorel, im Gefängnis auf seine
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften