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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0192
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Stellenkommentar GM I 11, KSA 5, S. 276 173

„Gesetzt, dass", das das Nachfolgende, im Konjunktiv II Vorgetragene über-
deutlich als Hypothese markiert, um dann aber jäh in den Indikativ zu wech-
seln. Saar 2007, 54 f. betont einerseits, dass der hier Sprechende einen ge-
schichtlichen Gesamtüberblick zu haben beanspruche, dessen Quelle und Ab-
sicherung dunkel bleibe, und hebt andererseits den „hypothetischen oder
experimentellen Charakter dieser Überlegungen" hervor, die sich weigern, eine
positive Gegenrechnung aufzumachen und zu erwägen, welchen Gewinn die
Domestikation tatsächlich auch gezeitigt haben könnte. 276, 27-30 versieht die
Annahme, dass diejenigen, die von reaktiven Instinkten und Ressentiment -
möglicherweise immerhin „Werkzeuge der Cultur" - beseelt sind, selber
„die Cultur" verkörpern, um es im nächsten Satz, der vom Konjunktiv II in den
Indikativ wechselt, rundweg in Abrede zu stellen. Impliziert ist hier also ein
normativer Kulturbegriff, der sich vom Kulturbegriff zu Beginn der Passage
(276, 20-22) deutlich unterscheidet: Domestikation des Raubtieres erscheint da
noch als möglicher „Sinn aller Cultur" - und genau diesen Zweck schei-
nen die reaktiven Instinkte ja gerade zu erfüllen. Erst mit der jähen Wendung,
die offensichtlich die Bereitschaft verweigert, den versuchsweise einmal ange-
nommenen Sinn von Kultur tatsächlich in der Raubtierzähmung und damit in
der möglichst friedlichen Koexistenz aller Hominini zu sehen, kommt ein ande-
rer, normativer Kulturbegriff ins Spiel, der offensichtlich für nicht-reaktive,
vornehme Lebensäußerungen reserviert bleiben soll. Oder aber die Kultur gerät
in Anführungszeichen und ist nunmehr Gegenstand von Gehässigkeit: „Diese
,Werkzeuge der Cultur"', also die angeblich heute herrschenden, reaktiven Res-
sentimentmenschen, „sind eine Schande des Menschen, und eher ein Ver-
dacht, ein Gegenargument gegen ,Cultur' überhaupt!" (276, 34-277, 2).
Der Gegensatz von „Raubthier" und „Hausthier", der N. etwa auch an der
in NK 275, 9-16 zitierten Stelle aus Bourget 1883, 320 f. begegnet sein konnte
(er ist allerdings topisch, siehe z. B. Rousseau 1755, 25), ist wirkungsvoll, weil
er impliziert, das Raubtier gehorche in seiner Wildheit einer natürlichen Be-
stimmung, lebe authentisch, während das Haustier von seinem natürlichen
Habitat entfremdet ist. N. hatte freilich spätestens bei der eingehenden Lektüre
von Alfred Espinas' Buch Die thierischen Gesellschaften (die sich etwa auch in
FW 116-119, KSA 3, 474-476 niederschlägt, vgl. Simonin 2019. Zu Espinas in
FW ausführlich Krause 2016) gelernt, dass Domestikation durchaus im Interes-
se des Domestizierten ist: „Die Domesticität selbst ist die höchste Form der
Gegenseitigkeit, welche zwischen verschiedenen Arten vorkommen kann, weil
sie die Unterordnung voraussetzt. Unterordnung und Organisation ist eines.
Die Vergesellschaftung ist hier auf beiden Seiten eine freiwillige, und das ist
die Grundbedingung für jede Gegenseitigkeit" (Espinas 1879, 163. Seite von N.
markiert), auch wenn „jeder Domesticationsversuch mit einem Act der Ein-
 
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