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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0195
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176 Zur Genealogie der Moral

vor ihr einst hatte: „aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten,
wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den
ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifte-
ten nicht mehr los werden können?" (277, 5-9) Die Frage suggeriert, niemand
würde das ernstlich wollen - während doch offensichtlich die große Bevölke-
rungsmehrheit gerade das will, wenn sie damit der Furcht entgehen kann (vgl.
JGB 201 u. NK KSA 5, 123, 27-33). Die Furcht, die offenbar auf „uns" anspornend
wirkt, ist mit der Bewunderung gepaart, die an die „Ehrfurcht" (273, 30) erin-
nert, die Vornehme gegenüber ihren Feinden hegen sollen. Furcht und Bewun-
derung sind offenbar dynamisierende Empfindungen, die zu Höchstleistungen
anspornen. Entfallen diese Empfindungen, versinken die Menschen in träger,
müder Mittelmäßigkeit. Allerdings ist das „Wir" zu Beginn von I 11 keineswegs
bereit, die Furcht vor den Gewalttätigen bei den Schwächeren der Vergangen-
heit ebenfalls als kulturell prägende Kraft anzuerkennen; da steht nur Spott
gegen die als sekundär und reaktiv verunglimpfte „Sklaven-Moral" zu Gebote -
statt anerkennender Worte für das immense Kultivierungsvermögen der
Furcht. Die neue Präferenz für die Furcht am Ende des Kapitels könnte einen
vorbehaltvollen Interpreten sogar zu der Annahme veranlassen, hier mache
sich das „Wir" nun plötzlich selbst einen sklavenmoralischen Wert zueigen,
gehöre doch allenfalls Ehrfurcht, aber nicht Furcht ins Anforderungsprofil der
Vornehmen (vgl. aber NK 359, 21-31 zu den Philosophen, die Furcht und Ehr-
furcht erwecken wollen).
277, 16 f. als „höheren Menschen" zu fühlen gelernt hat] Im Unterschied zu
GM I 2, wo der „höhere Mensch" ohne ironisierende Anführungszeichen als
Synonym des Vornehmen auftritt - vgl. NK 259, 4-12 -, sind es hier gerade die
höchst unvornehmen Jetztmenschen, die auf diesen Titel Anspruch erheben.
Den „höheren Menschen" unter den Künstlern des 19. Jahrhunderts steht
JGB 256, KSA 5, 203 reserviert gegenüber - und zumindest ambivalent Zara-
thustra in Za IV Vom höheren Menschen, KSA 4, 356-368.
277, 19 f. Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach
dem heute Europa zu stinken beginnt] In GM finden sich wiederholt Seitenhiebe
auf den Zustand des modernen Europa, in dem nach GM I 5, KSA 5, 263, 33-
264, 2 die einst unterworfenen Sklavenschichten die Oberhand gewonnen hät-
ten (vgl. GM I 11, KSA 5, 276, 30-34): „die Verkleinerung und Ausgleichung des
europäischen Menschen birgt unsre grösste Gefahr, denn dieser Anblick
macht müde..." (GM I 12, KSA 5, 278, 14-16). Es repräsentiert einen „sehr späten
Zustand[.] der Cultur" (GM II 13, KSA 5, 317, 2 f.), einen Niedergang, der seine
Ursache wesentlich im Christentum hat, „dieser Selbstkreuzigung und Selbst-
schändung des Menschen, in der die letzten Jahrtausende Europa's ihre Meis-
 
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