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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0197
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178 Zur Genealogie der Moral

und lässt das „Wir" ganz ähnlich wie am Ende von GM I 11 (vgl. NK 277, 9-13)
kundtun, dass mit der „Furcht vor dem Menschen" auch „Liebe" und „Ehr-
furcht" (278, 21 f.) ihm gegenüber verloren gegangen sei - sein Anblick ermü-
de: „was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?" (278, 24 f.)
278, 3-6 unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem
bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer nur noch straffer anzieht] Das schon
bei Heraklit begegnende Motiv des gespannten Bogens (vgl. NK KSA 5, 13, 1-3)
bildet JGB Vorrede auf weltgeschichtliche Verhältnisse ab (vgl. NK KSA 5, 12,
30-13, 9). In GM I 12 spricht zwar das „man" über sich selbst, lässt aber keinen
Zweifel an der eigenen weltgeschichtlichen Sendung aufkommen. Die Frage:
„Hast du ein Ziel dir gestecket und richtest du danach den Bogen?", hat N.
auch bei Persius: Saturae III 60 gefunden („Est aliquid quo tendis, et in quo
dirigis arcum?" Persius 1862, 9, in N.s Exemplar mit Betonungszeichen verse-
hen. Deutsch hier nach der Übersetzung von Wilhelm Sigismund Teuffel,
1844).
278, 13 Glauben an den Menschen] Im Druckmanuskript ist eine darauf
folgende Einfügung gestrichen: „den Willen zu einer Zukunft" (GSA 71/27,1, fol.
14r).
278, 14 f. die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt
unsre grösste Gefahr] Das Motiv der Verkleinerung ist in den kulturdiagnosti-
schen Partien von N.s Werk sehr prominent, vgl. NK 257, 21-23. Es ist oft ver-
bunden mit demjenigen des Chinesentums, das für die allgemeine Vermittel-
mäßigung steht, die Europa in der Gegenwart angesichts starker demokrati-
scher und egalitaristischer Strömungen drohe, vgl. NK 277, 19 f.; NK KSA 5, 220,
30-221, 6; NL 1885, KSA 11, 35[22], 518, 10-15 und KGW IX 6, W II 2, 129 f. =
NL 1887, KSA 12, 10[17], 462 f. Beispielsweise bei Frary 1884, 272 f., wo N. viele
Lesespuren hinterlassen hat, konnte er sich in der Auffassung von der angeb-
lich verheerenden, weil die gesunden Konkurrenzkräfte, den „Wetteifer"
schwächenden Gleichheitsforderung bestätigen lassen. Zum antiegalitaristi-
schem Gerechtigkeitsbegriff in GM siehe Knoll 2009, 169 f. u. 174.
278, 17-19 abwärts geht, in's Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere,
Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere] Die Degenerati-
onsgeschichte, die GM I 12 in Aussicht stellt, ist also zugleich die Geschichte
einer allgemeinen Vermoralisierung und damit Verchristlichung: Christliche
Glaubensinhalte mögen gleichgültig geworden sein, die christliche Moral ist
es nicht. Eingereiht in diese Komparative der Verschlechterung ist auch das
Chinesische oder eben das „Chinesischere". N. stand China (durch Lektüren
wie Hellwald 1876a-1877a, 1, 152 und Mill 1869-1886, 1, 75) als Zivilisation der
 
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