Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0198
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 278 179

Differenzennivellierung, des blinden Massengehorsams und des allgemeinen
Ruhebedürfnisses vor Augen, „Chineserei" als „Reich der tiefsten Vermittel-
mässigung" (FW 377, KSA 3, 629, 15). Vgl. NK KSA 5, 144, 6 f.; NK KSA 6, 142,
29; NK KSA 6, 177, 14-16 und NK KSA 6, 369, 9 f.
278, 23-26 Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde — was ist heute
Nihilismus, wenn er nicht das ist?... Wir sind des Menschen müde...] Zum
Nihilismus vgl. NK 252, 17-22. Nihilismus ist hier nicht etwas, was den anderen,
weltverneinenden Zeitgenossen zugeschrieben wird, sondern eine Empfindung
(eher als eine Erkenntnis oder eine Weltanschauung), die das sprechende
„Wir" anwandelt, und zwar angesichts seiner deprimierenden Erfahrung mit
den Jetztzeitmenschen, die offenbar unverdrossen auf dem Pfad allgemeiner
Vermittelmäßigung und Vermoralisierung dahintrotten - und so das Auftreten
herausragender Einzelindividuen verhindern. Das „Wir" scheint sich - selbst
nihilistisch angesäuert, weil ihm starke Zweifel an der Zukunft des Menschen
gekommen sind - noch nicht zu der Einsicht durchgerungen zu haben, dass je
mehr Mittelmäßigkeit und Gleichheit auf Erden existieren, desto mehr Möglich-
keiten sich für die Individuen auftun, etwas Außergewöhnliches und Herausra-
gendes zu tun: Erst wo das Mittelmaß die Regel geworden ist, kann der Einzel-
ne es durchbrechen und sein Eigenes tun. Das Mittelmaß ist die Voraussetzung
dafür, dass eine so extraordinäre Denkerpersönlichkeit wie N. auf der Bildflä-
che erscheinen kann. Unter lauter Herausragenden, Maßlosen wäre er womög-
lich gar nicht aufgefallen. Zur Überwältigungsrhetorik von 278, 23-26 siehe
auch Solomon 1994, 100 f.
13.
Auch GM I 13 gehört zu den plakativ-skandalträchtigen Abschnitten des Werks.
Insbesondere das zoologisch-mythologische Eingangsbild von den „grossen
Raubvögeln" und den „Lämmer[n]" (278, 31) wird immer wieder als Beleg für
N.s angebliche Herrenmenschenallüren bemüht. Die Fabel lässt die Lämmer
darüber räsonieren, dass die Raubvögel, die sie verfolgen, böse seien, während
sie, die Lämmer gut sind, worauf die Raubvögel von sich sagen, sie seien ihrer-
seits den wohlschmeckenden Lämmern „gar nicht gram" (279, 7). Diese narrati-
ve Exposition bereitet eine längere Erörterung darüber vor, dass es, entgegen
der lämmermoralischen Suggestion, „der Stärke" (279, 9) nicht frei stehe, die
Äußerungen der Stärke einzustellen. Man unterliege einem fundamentalen,
durch den Sprachgebrauch induzierten Fehlschluss, wolle man hinter einem
Tun einen Täter ausfindig machen - „das Thun ist Alles" (279, 28 f.). Entspre-
chend können der Starke und der Raubvogel gar nicht anders handeln, als sie
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften