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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0200
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Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 278 181

278, 31-279, 9 Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das be-
fremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verar-
gen, dass sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen
„diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist,
vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, — sollte der nicht gut sein?" so ist an
dieser Aufrichtung eines Ideals Nichts auszusetzen, sei es auch, dass die Raubvö-
gel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: „wir sind
ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist
schmackhafter als ein zartes Lamm."] In Za IV Das Lied der Schwermuth 3,
KSA 4, 372, 32-373, 15 und modizifiert in DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6,
379, 1-17 schlüpft der „Narr" und „Dichter" in die lämmerjagende Rolle des
Adlers, der seine Beute freilich in den eigenen „Abgründe[n]" (Za IV Das Lied
der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 2) sucht. Zarathustra, der sich anderswo schon
gefragt hatte, ,,[m]ein Magen — ist wohl eines Adlers Magen? Denn er liebt am
liebsten Lammfleisch" (Za III Vom Geist der Schwere, KSA 4, 241, 12 f.), trägt
den höheren Menschen bei seinem blasphemischen Abendmahl nicht Brot und
Wein, sondern „Fleisch und Wein" (Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 354, 20) auf,
er bewirtet seine Gäste mit dem „Fleische guter Lämmer" (ebd., 354, 9). Läm-
mer versinnbildlichen etwa in JGB 201, KSA 5, 123 Mittelmäßigkeit und Ange-
passtheit, so dass sich eine allegorisierende Interpretation der Eingangsfabel
von GM I 13 aufdrängt (vgl. NK KSA 6, 379, 11-17). Es fällt dabei auf, dass sich
beide Tiergruppen nur untereinander unterhalten, dabei reden die Lämmer
über die Raubvögel in der 3. Person und nicht über sich, während die Raubvö-
gel dezidiert „wir" (279, 7) sagen (vgl. Solomon 1994, 108) und sich von allen
negativen Affekten gegenüber den Lämmern freisprechen, die sie sich ja lie-
bend gerne einverleiben. In einer Vorfassung zum Gedicht Za IV Das Lied der
Schwermuth 3 / DD Nur Narr! Nur Dichter! hatte es vom Adler noch geheißen:
„er haß<t> die Schafe" (NL 1884, KSA 11, 28[14], 304, 15). Das käme den
Raubvögeln in GM I 13 nicht mehr in den Sinn.
Der Vergleich zwischenmenschlichen Verhaltens mit dem von Raubvögeln
und Lämmern ist tief verwurzelt in der abendländischen Motivtradition: In Ho-
mers Ilias XXII 308-310 wird von Hektor berichtet: „An nun stürmt' er gefaßt,
wie ein hochherfliegender Adler / Welcher herab auf die Ebne gesenkt aus
nächtlichen Wolken / Raubt den Hasen im Busch, wo der hinduckt, oder ein
Lämmlein" (Übersetzung von Johann Heinrich Voß; „oi|ir|(jEV öe dheig wq
T'aiETOc; vipinsTfeig, / 0§ t' einiv neöiovöe ötd ve^ewv epeßevvwv / dpnd^wv ft
apv' dpaÄqv fi nTWKa Äaywov-"). Und in Ilias XXI 252 heißt es von Achill, er sei
„Ungestüm wie der Adler, der schwarzgeflügelte Jäger" („aicTov o'i'paT' ^
peÄavog tov OppriTfjpoc;". Siehe zu diesem Vergleich bei Homer Günther 1867,
12). Hertlein 2020 argumentiert, die Fabel von den Lämmern und den Raubvö-
 
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