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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0202
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Stellenkommentar GM I 13, KSA 5, S. 279 183

279, 14-29 Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wir-
ken — vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken
selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten
Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirken-
des, durch ein „Subjekt" versteht und missversteht, kann es anders erscheinen.
Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres
als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-
Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter
dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äus-
sern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein „Sein"
hinter dem Thun, Wirken, Werden; „der Thäter" ist zum Thun bloss hinzugedich-
tet, — das Thun ist Alles.] Diese Überlegungen nehmen Formulierungen aus
einem Nachlass-Notat auf, das sich unter dem Titel „Zur Bekämpfung des De-
terminismus" ähnlicher Begriffe bedient wie GM I 13, aber eine ganz andere
Intention hat: „Daraus, daß Etwas regelmäßig erfolgt u. berechenbar erfolgt,
er= / giebt sich nicht, daß es nothwendig erfolgt. Daß ein Wille 'Quantum
Kraft' sich in jedem / bestimmten Falle auf eine einzige Art u. Weise bestimmt
u. benimmt, macht / ihn nicht zum ,unfreien Willen'. Die ,mechanische Noth-
wendigkeit' ist kein / Thatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hinein
interpretirt. / Wir haben die Formulirbarkeit des Geschehens ausgedeutet als
Folge einer / über dem Geschehen waltenden Necessität. Aber daraus, daß ich
etwas Be=/stimmtes thue, folgt keineswegs, daß ich es gezwungen thue. Der
Zwang / ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß /
ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist. Erst da-
durch, / daß wir Subjekte ,Thäter' in die Dinge hineingedeutet haben, ent= /
steht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte /
ausgeübten Zwang ist — ausgeübt von wem? wiederum von einem ,Thäter'. /
Ursache u. Wirkung — ein gefährlicher Begriff, solange man ein Etwas / denkt,
das verursacht u. ein Etwas, auf das gewirkt wird." (KGW IX 6, W II 1, 75, 5-
34 = NL 1887, KSA 12, 9[91], 383, 1-22) Während hier die sprachkritische Zurück-
weisung eines Täter-Subjektes hinter dem Tun gerade antideterministisch ver-
standen wird, so dass eben kein „Zwang [...] in den Dingen" walte, wird dassel-
be Argument in GM I 13 dazu verwendet, die angeblich von sklavenmoralischer
Seite aufgebrachte These von der Willensfreiheit des Subjekts zu sabotieren
(vgl. NK 280, 31-34): Nach GM I 13 steht es niemandem frei, etwas anderes zu
sein, als er ist - weil weder die Stärke noch die Schwäche sich selbst verleug-
nen können und eben kein Subjekt hinter der Tat steht, das diese Tat auch
nicht tun könnte. Der populäre Irrtum - es ist mehrfach von „Volk" (279, 21 u.
ö.) die Rede, das sich in seinem offensichtlich unbedarften Sprechhandeln der-
lei ersonnen hat - besteht darin, hinter dem „Wirken" ein „Wirkendes", ein
 
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