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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0228
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Stellenkommentar GM I 15, KSA 5, S. 284 209

dann haben! Was werde ich da zu bewundern, worüber werde ich da zu lachen
haben! Wie werde ich mich freuen, wie frohlocken, wenn ich so viele Könige
sehe, die angeblich in den Himmel aufgenommen wurden, nun aber mit Jupiter
selbst und ihren eigenen Zeugen in tiefster Finsternis stöhnen! Ebenso die Pro-
vinzialstatthalter, die den Namen des Herrn verfolgten, in wütenderen Flam-
men schmelzen als jene, mit denen sie gegen die Christen gewütet haben! Und
wen weiter? Jene weisen Philosophen, die angesichts ihrer Schüler, mit denen
sie gemeinsam verbrennen, erröten, haben sie diesen doch weisgemacht, dass
zu Gott nichts gelange, haben sie ihnen doch versichert, dass es entweder kei-
ne Seelen gäbe, oder dass die nicht in ihre früheren Körper zurückkehrten!
Und auch die Dichter, die nicht vor eines Rhadamanthys' oder eines Minos'
Gericht erzittern, sondern vor dem des unverhofften Christus! Dann muss man
die Tragödiendichter eher hören, sind sie nun doch bei besserer Stimme, um
ihr eigenes Schicksal zu beklagen! Dann muss man die Schauspieler schätzen,
viel zarter inmitten des Feuers! Dann muss man den Wagenlenker anschauen,
ganz rot in seinem Flammenrad! Dann muss man auch die Athleten bestaunen,
nicht auf ihrem Sportplatz, sondern ins Feuer geworfen! Aber es sind nicht
diese, die ich zu sehen wünschte, eher sind es diejenigen, welche den Herrn
gelästert haben, auf die ich meinen unersättlichen Blick richten möchte. ,Hier
ist jener', werde ich sagen, ,der Sohn des Zimmermanns oder des Freudenmäd-
chens, der Zerstörer des Sabbats, der von Dämonen besessene Samariter; hier
ist der, den ihr von Judas erkauft habt; hier ist derjenige, den ihr mit dem
Rohrstock und mit den Fäusten geschlagen habt, der mit Spucke erniedrigte,
der mit Galle und Essig gelabte, hier ist derjenige, den seine Jünger heimlich
entwendeten, um sagen zu können, er sei auferstanden, — oder den der Gärt-
ner forttrug, um zu verhindern, dass seine Salate von der Masse der Besucher
Schaden litten.' Welcher Prätor oder Konsul oder Quästor oder Priester könnte
dir in seiner Freigebigkeit schenken, dass du dergleichen erblicktest, dass du
über dergleichen flohlocktest? Und dennoch besitzen wir dieses schon bis zu
einem gewissen Grad durch den Glauben, da der Geist es vorstellend vergegen-
wärtigt. Und wie sind im Übrigen jene Dinge beschaffen, die kein Auge je gese-
hen, kein Ohr gehört hat, noch in das Herz des Menschen gekommen sind? Ich
glaube, sie sind willkommener als der Zirkus, die beiden Theater und jedes
Stadion!" (De spectaculis 30, 2-7, Übersetzung AUS.)
Mit Hilfe von De spectaculis, das es Christen kategorisch untersagt, Zirkus-
und Theaterspiele zu besuchen, aber ihnen für diesen Verzicht die Aussicht
auf ewige Genugtuung im Anblick der für Nichtchristen auf dem Spielplan ste-
henden Höllenmarter eröffnet, will GM I 15 die Rede vom Christentum als Reli-
gion der Liebe als Betrug entlarven: Nicht die Liebe, sondern der Hass mache
das innerste Wesen des Christentums aus. Die Evokation der Liebe als einer
 
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