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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0236
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Stellenkommentar GM I 16, KSA 5, S. 286-288 217

lich schon überwundenen Christentums breit ausgemalt und als finstere Reak-
tion dargestellt, vgl. NK KSA 6, 251, 12-26. Demgegenüber war in FW 146 Luther
als „unrömisch" (KSA 3, 492, 16) gesinnter Initiator der Verunchristlichung
Deutschlands aufgetreten, auf deren „Vollendung" (KSA 3, 492, 15 f.) das spre-
chende „Wir" dort hofft. FW 148 hält dafür, die Reformation habe die „christli-
che Cultur" (KSA 3, 492, 31) der Deutschen quasi über Nacht vernichtet.
Ken Gemes verweist auf eine Stelle in der zweiten Auflage von Eugen Düh-
rings Der Werth des Lebens als mögliche Inspirationsquelle, die freilich in der
von N. besessenen Ausgabe aus dem Jahr 1865 noch nicht enthalten ist. Sie
lautet: „Das thatsächliche Christenthum, wie es auf die theils corrumpirten,
theils barbarisch wilden Völker gepfropft wurde, hat bekanntlich die jüdische
Ueberlieferung fortgepflanzt und ist später mit der Reformation erst recht da-
rauf zu-/274/rückverfallen." (Dühring 1877, 273 f.)
287, 21-28 In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals kam
Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassi-
sche Ideal: die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des sieb-
zehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts brach unter den volks-
thümlichen Ressentiments-Instinkten zusammen, — es wurde niemals auf Erden
ein grösserer Jubel, eine lärmendere Begeisterung gehört!] Die Französische Re-
volution als Ausdruck des sklavenmoralischen Ressentiments ist beim späten
N. ein Topos, vgl. z. B. NK KSA 5, 56, 7-18 und NK KSA 5, 67, 22-26, zur Über-
sicht Marti 1993. Dass in der Revolution der Pöbel an die Macht gekommen sei,
war zu N.s Zeit eine unter konservativen Publizisten verbreitete Auffassung,
die ihm etwa bei Raoul Frary vor Augen stand, der allerdings auch Verfehlun-
gen vor und nach Beginn der Revolution für ihren unkontrollierten Lauf ver-
antwortlich machte: „Durch nichts ist die Revolution so beschleunigt worden,
als durch die Uebel, die sie selbst zu Anfang verursacht hat." (Frary 1884, 176,
N.s Unterstreichung, Randstrich.)
287, 32-288, 3 erscholl, gegenüber der alten Lügen-Losung des Ressentiment
vom Vorrecht der Meisten, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Er-
niedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen die
furchtbare und entzückende Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten] Be-
kanntlich haben sich die Revolutionäre gegen die alten privileges, die Vorrech-
te des Adels und des Klerus gewandt. Die Spiegel-Wendung „Vorrecht der Meis-
ten"/„Vorrecht der Wenigsten" scheint allerdings von N. selbst zu stammen,
vgl. auch NK KSA 6, 218, 17-21. In GM II 10, KSA 5, 309, 18 wird als das „Vorrecht
des Mächtigsten" geltend gemacht, auf Vergeltung zu verzichten und Gnade
walten zu lassen.
288, 3-8 Wie ein letzter Fingerzeig zum andren Wege erschien Napoleon, je-
ner einzelnste und spätestgeborne Mensch, den es jemals gab, und in ihm das
 
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