Stellenkommentar GM II 1, KSA 5, S. 291 225
120). Maudemarie Clark and Alan J. Swensen übersetzen „der versprechen
darf" mit „that is permitted to promise", um den angeblich vorhandenen „nor-
mative character" der Aussage wiederzugeben (Nietzsche 1998, 139, vgl.
McNeill 2007, 149). Die Frage ist, ob dieses Dürfen tatsächlich so normativ auf-
geladen ist oder nicht vielmehr ein Können, ein Vermögen bezeichnet, das
Menschen in prähistorischen Zeiten, bevor sie sich gegenseitig ein Gedächt-
nis machen wollten, einfach gefehlt hatte (zur allgemeinen philosophiehis-
torischen Einordnung der hier obwaltenden Konzeption des Versprechen-
Könnens siehe Liebsch 2006, bes. 161-163). Leiter 2011, 106 übersetzt: „which
is able to make and honor a promise?" und investiert in diese Übersetzung
bereits viel Interpretation, denn das Honorieren des Versprechens, die Rezipro-
zität des Vorgangs, fällt in 291, 5 außer Betracht. „The assumptions underlying
this question are twofold. First, and most obviously, human beings are certain
kinds of animals. And second, as with other animals, one explains what they
do (e.g. promise-making) not by appeal to their exercise of some capacity
for autonomous choice and decision, but in terms of the causal mechanisms
(e.g. breeding) acting upon them which yield certain steady behavioral disposi-
tions." (Leiter 2011, 106) Ob die Menschen aber kausalmechanisch determinier-
te oder freie Wesen seien, ist ganz offensichtlich nicht die Fragestellung, die
den Anfang von GM bestimmt: Durch die evolutionäre Historisierung des
Menschen unterläuft der Text gerade solche kruden, von geschichtsfernen
Philosophen gerne behaupteten Dualismen. Dass der Mensch vielmehr als ein
biologisches Wesen verstanden wird, ohne alte metaphysische Privilegien,
macht das Reden von der Zucht ebenso deutlich wie die Personifikation der
„Natur" als einer handelnden Person, die „sich" eine „Aufgabe" stellt. Richard-
son 2008, 97 notiert dazu, es sei schwer zu glauben, dass die „agentive nature"
hier wörtlich zu verstehen sei; vielmehr sei sie „a stand-in for some other
causal process working at the level of the society or species as a whole [...].
Nietzsche must mean a selective process, working by aggregate effects over
populations." Entsprechend buchstabiert Richardson das zurück auf N.s „new
Darwinism", schenkt aber dem Umstand keine Beachtung, dass die Sprechwei-
se von der Natur als einer handelnden, planenden Natur ein beliebtes Sprach-
spiel der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie gewesen ist. N.
hatte sich dieses Sprachspiels schon in JGB 188 bedient, und zwar in deutli-
chem Rekurs auf Kants geschichtsphilosophische Schriften, siehe NK 5/1,
S. 505 f. (zu N.s und Kants Geschichtsdenken im Vergleich Sommer 2005b; zu
Kants Idee der Naturabsicht Sommer 2006b, 312-314 u. 319-322). Bei Kuno Fi-
scher konnte N. die einschlägigen Stellen nachlesen: „Dank sei also der Natur
für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die
nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne
120). Maudemarie Clark and Alan J. Swensen übersetzen „der versprechen
darf" mit „that is permitted to promise", um den angeblich vorhandenen „nor-
mative character" der Aussage wiederzugeben (Nietzsche 1998, 139, vgl.
McNeill 2007, 149). Die Frage ist, ob dieses Dürfen tatsächlich so normativ auf-
geladen ist oder nicht vielmehr ein Können, ein Vermögen bezeichnet, das
Menschen in prähistorischen Zeiten, bevor sie sich gegenseitig ein Gedächt-
nis machen wollten, einfach gefehlt hatte (zur allgemeinen philosophiehis-
torischen Einordnung der hier obwaltenden Konzeption des Versprechen-
Könnens siehe Liebsch 2006, bes. 161-163). Leiter 2011, 106 übersetzt: „which
is able to make and honor a promise?" und investiert in diese Übersetzung
bereits viel Interpretation, denn das Honorieren des Versprechens, die Rezipro-
zität des Vorgangs, fällt in 291, 5 außer Betracht. „The assumptions underlying
this question are twofold. First, and most obviously, human beings are certain
kinds of animals. And second, as with other animals, one explains what they
do (e.g. promise-making) not by appeal to their exercise of some capacity
for autonomous choice and decision, but in terms of the causal mechanisms
(e.g. breeding) acting upon them which yield certain steady behavioral disposi-
tions." (Leiter 2011, 106) Ob die Menschen aber kausalmechanisch determinier-
te oder freie Wesen seien, ist ganz offensichtlich nicht die Fragestellung, die
den Anfang von GM bestimmt: Durch die evolutionäre Historisierung des
Menschen unterläuft der Text gerade solche kruden, von geschichtsfernen
Philosophen gerne behaupteten Dualismen. Dass der Mensch vielmehr als ein
biologisches Wesen verstanden wird, ohne alte metaphysische Privilegien,
macht das Reden von der Zucht ebenso deutlich wie die Personifikation der
„Natur" als einer handelnden Person, die „sich" eine „Aufgabe" stellt. Richard-
son 2008, 97 notiert dazu, es sei schwer zu glauben, dass die „agentive nature"
hier wörtlich zu verstehen sei; vielmehr sei sie „a stand-in for some other
causal process working at the level of the society or species as a whole [...].
Nietzsche must mean a selective process, working by aggregate effects over
populations." Entsprechend buchstabiert Richardson das zurück auf N.s „new
Darwinism", schenkt aber dem Umstand keine Beachtung, dass die Sprechwei-
se von der Natur als einer handelnden, planenden Natur ein beliebtes Sprach-
spiel der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie gewesen ist. N.
hatte sich dieses Sprachspiels schon in JGB 188 bedient, und zwar in deutli-
chem Rekurs auf Kants geschichtsphilosophische Schriften, siehe NK 5/1,
S. 505 f. (zu N.s und Kants Geschichtsdenken im Vergleich Sommer 2005b; zu
Kants Idee der Naturabsicht Sommer 2006b, 312-314 u. 319-322). Bei Kuno Fi-
scher konnte N. die einschlägigen Stellen nachlesen: „Dank sei also der Natur
für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die
nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne