Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0245
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
226 Zur Genealogie der Moral

sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwi-
ckelt schlummern, der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was
für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht." (Fischer 1860, 2, 332. Original:
Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter
Satz, AA VIII, 21) Ganz offensichtlich persifliert der Beginn von GM II 1 diese
geschichtsphilosophische Sprechweise, die suggeriert, über die innersten Be-
weggründe der „Natur" (als Substitut Gottes) unterrichtet zu sein. Hier hat der
Rekurs auf die Natur als Handlungsinstanz ironischen Charakter, was sich
auch daran zeigt, dass sie nach ihrem ersten, pompösen Auftritt gleich wieder
in der Versenkung verschwindet.
291, 8-19 Dass dies Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist, muss Dem um
so erstaunlicher erscheinen, der die entgegen wirkende Kraft, die der Vergess-
lichkeit, vollauf zu würdigen weiss. Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae,
wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne
positives Hemmungsvermögen , dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns
erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung
(man dürfte ihn „Einverseelung" nennen) ebenso wenig in's Bewusstsein tritt, als
der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die
sogenannte „Einverleibung" abspielt.] Der Eingang dieser Passage über das Ver-
gessen könnte suggerieren, dass offensichtlich gegenwärtig die meisten Men-
schen so konditioniert sind, dass sie versprechen dürfen - ohne deshalb große
Ausnahmeindividuen zu sein. GM II 2, KSA 5, 293, 20-25 wird vom „souve-
raine[n] Individuum" handeln, dessen Souveränität wesentlich darin lie-
ge, versprechen zu dürfen. Man hat dieses Individuum oft mit den bei N. häufig
begegnenden Verweisen auf den weltgeschichtlich maßgeblich werdenden Ein-
zelnen, das große Individuum oder den Übermenschen zusammengebracht,
dabei jedoch den Kontext von GM II 1 und die allgemeine Konditionierung aller
Angehörigen der Gattung Mensch zu versprechen dürfenden Wesen ausgeblen-
det - die das dürfen und können, weil ihnen mittlerweile eben ein Erinne-
rungsvermögen angezüchtet worden ist.
Die positive Dimension des oft geringgeschätzten Vergessens hatte promi-
nent schon UB II HL 1, KSA 1, 248 f. herausgestellt (vgl. zum allgemeinen Hori-
zont Weinrich 2005 u. Sommer 2013b, zum zeitgenössischen Diskurskontext
Thüring 2001b). Vergessen als eine aktive Kraft zu verstehen, war insbesondere
der Ansatz von Harald Höffding in seiner von N. intensiv durchgearbeiteten
Psychologie in Umrissen: „Selbst wenn man denjenigen Psychologen nicht
recht geben kann, welche meinen, das Vergessen sei das Schwererklärliche,
während das Erinnern sich von selbst verstehe, so kann man doch nicht umge-
kehrt behaupten, dass Vorstellungen ,von selbst' vergessen werden. Das Ver-
gessen kann eine ebenso grosse Kunst sein wie das Erinnern, weshalb auch
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften