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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0252
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Stellenkommentar GM II 2, KSA 5, S. 292 233

willfähriger er sich den sozialen Verhaltensnormen, also der herrschenden Mo-
ral fügt (dass „Sittlichkeit der Sitte" oder Moral etwas sein könnte, was bei-
spielsweise aus der Vernunft des Menschen statt aus gesellschaftlichen Zwän-
gen hervorgehen könnte, wird in diesem Absatz keiner Diskussion für würdig
erachtet: Zu offenkundig erscheint vor dem Hintergrund des bisher in GM Ge-
sagten das historische Gewordensein, die kontingente Bedingtheit aller Moral).
Resultat ist vielmehr ein Menschentypus, der sich über alle Sozialbindungsmo-
ral hinwegsetzt. Er wird mit lobenden Epitheta bedacht, die es nahelegen, in
ihm ein Ideal, den eigentlichen Fluchtpunkt der moralischen Evolution zu se-
hen. GM II 2 suggeriert gar, dieser Typus sei das eigentliche Ziel der Geschichte
und parodiert damit das teleologische Denken der spekulativ-universalisti-
schen Geschichtsphilosophie seit dem 18. Jahrhundert.
Diesen „Freigewordne[n]" zeichnet nur aus, dass „er wirklich versprechen
darf", dass er „Herr des freien Willens", „Souverain" (293, 29-31) sei. Weder
die brachiale Kraft der urtümlichen Gewaltmenschen, die in GM I provozierten,
noch die intellektuelle Überlegenheit von Priester-Eliten werden ihm zuge-
schrieben, sondern nur das vermeintlich geringe Vermögen, versprechen zu
dürfen - ist dieses souveräne Individuum tatsächlich, wie Stegmaier 1994, 137
nahelegt, identisch mit den Eroberer-Figuren von GM II 17 (KSA 5, 324 f.)? Das
Versprechensvermögen wird ihm als unvergleichliche „Überlegenheit" (293,
32) und als „Privilegium der Verantwortlichkeit" (294, 19) ausgelegt,
durch das es sich fundamental von denjenigen unterscheidet, die bloß sittlich
konditioniert sind - es sei das „autonome übersittliche Individuum (denn ,au-
tonom' und ,sittlich' schliesst sich aus)" (293, 23 f.).
Das Vermögen, versprechen zu dürfen, wird zum auszeichnenden Merk-
mal, weil derjenige, der dies darf, nicht nur selbstmächtig in der Gegenwart
agiert, sondern über seine eigene Zukunft, also über enorm gesteigerte Selbst-
macht verfügt (vgl. Miles 2007, kritisch dazu Leiter 2011, 108, vgl. auch Miyasa-
ki 2016, 262 f.): Er kann - und dies ist Ausdruck höchster Macht - nicht nur
für sich in der Gegenwart sprechen, sondern er kann für sich selbst auch in
Zukunft garantieren. Wenn er als „Herr des freien Willens" (293, 30 f.) adres-
siert wird, wird damit nicht am metaphysischen Konzept des freien Willens
festgehalten; gemeint ist vielmehr, dass dieses Individuum in der Lage ist, sich
selbst zu bestimmen, sich selbst zu determinieren, nicht aus einer schranken-
losen Freiheit, sondern aus seinem gegenwärtigen So-sein heraus: Seine Sou-
veränität besteht wesentlich darin, seinem eigenen künftigen Sein das Gepräge
seines jetzigen Seins zu geben, sich als künftiges Wesen zu projektieren und
zu determinieren - sich selbst eine Kontinuität geben zu können (Leiter 2011,
109 weist unter Rückgriff auf GD Die vier grossen Irrthümer 8 freilich diese
Lesart zurück und hält die Rede vom souveränen Individuum für satirisch). Die
 
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