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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0256
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Stellenkommentar GM II 2, KSA 5, S. 292 237

nur auf Matthäus 7, 16-20 und eine programmatische Passage in GM Vorrede 2
(vgl. NK 249, 2-4), sondern spielt (ebenso wie Kants Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) mit der Vorstellung von „der Natur" als
handelnder Person (vgl. NK 291, 5-7). Entgegen der Suggestion, dass das sou-
veräne Individuum der Sinn von Geschichte sei, wurde in GM II 2 gerade noch
geltend gemacht, die Implementierung der „Sittlichkeit der Sitte" habe im Be-
rechenbar-Machen des Individuums „ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung"
(293, 13). Von einer uneingeschränkt positiven Würdigung dieser Domestizie-
rung nimmt das in GM sprechende „Ich" allerdings wiederholt Abstand.
Abgesehen davon, dass sich ein positiver Gesamtsinn der Weltgeschichte
kaum ins kritische Kalkül der moralgenealogischen Entlarvung einpassen
lässt, weil dann plötzlich die ganze Geschichte von Unterdrückung, Diszipli-
nierung und Gefügigmachung eine positive retro- oder prospektive Rechtferti-
gung erhielte, während doch die gegenläufige Grundtendenz die zu sein
scheint, die Menschendressur unter einem strengen Moralregiment als verwerf-
lich anzuprangern. Und auch abgesehen davon, dass das souveräne Individu-
um in den folgenden Abschnitten so schnell und so spurlos wieder verschwin-
det wie es in GM II 2 auftaucht, fragt sich - und darin besteht die siebte Irrita-
tion -, an welcher Stelle das „Wir" eigentlich steht, das in 293, 17 „an's Ende
des ungeheuren Prozesses" sich stellen zu können glaubt. Diesen Perspektiv-
wechsel kann man in unterschiedlicher Weise verstehen: Wird der Blickpunkt
hier experimentierend auf einen hypothetisch vorweggenommenen histori-
schen Vollendungszustand verlegt oder aber auf einen, der als tatsächlich er-
reicht vorausgesetzt wird? Letzteres würde bedeuten, dass die souveränen In-
dividuen anders als Kants weltbürgerliche Gesellschaft nicht irgendwann in
der Zukunft ins Haus stehen, sondern offensichtlich schon realisiert sind -
aber wann und wo? (Vgl. Janaway 2009, 60 f. und Ridley 2009, 181 f.) Oder
denkt das „Wir" hier im Modus des Futur II über eine sich vollendet haben
werdende Zukunft nach, während die Vornehmen, von denen GM I handelte,
Gestalten einer wirklich vergangenen Vergangenheit waren? Vgl. auch
NK 291, 8-19. Gemes 2009b, 37 meint, die Leser würden in GM II 2 gerade als
solche adressiert, die nach wie vor unter sklavenmoralischem Diktat stünden.
Das lässt sich jedoch schwer am Text belegen, der eher das Identifikations-
interesse mit den souveränen Individuen anzustacheln scheint. Aber sind die
souveränen Individuen entwicklungsfähige, experimentierlustige Wesen, wie
May 2009, 91 mutmaßt?
In jüngerer Zeit sind in der Forschung angesichts der zahlreichen Irritatio-
nen Zweifel laut geworden, dass GM II 2 mit dem „souveränen Individuum"
tatsächlich ein eigenes Ideal propagieren wolle (z. B. Acampora 2006c, 147-
158; Loeb 2006, 163 f.; Hatab 2008a, 170-178; Leiter 2011, 101; Rukgaber 2012),
 
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