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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0258
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Stellenkommentar GM II 2, KSA 5, S. 293 239

etwas wie eine von aller Erfahrung abgelöste, ursprüngliche Sittlichkeit des
Menschen, eine reine Moralität, aber er schreitet keineswegs zu jener Identifi-
kation fort, die M 9 als „Hauptsatz" formuliert: „Sittlichkeit ist nichts Ande-
res (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art
diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln
und abzuschätzen." (KSA 3, 21, 29-22, 3) Sittlichkeit ist in N.s Rekonstruktion
etwas, was nicht irgendwie im Menschen verwurzelt ist, sondern ihm in einem
langwierigen historischen Prozess einverleibt und einverseelt wird. Damit
grenzt sich N.s Stellungnahme auch ab von Positionen wie derjenigen des Sozi-
alwissenschaftlers Albert Schäffle, der die Sittlichkeit nicht aus reiner prakti-
scher Vernunft ableitet, sondern aus einem gesamtgesellschaftlichen Funda-
mentalinteresse, und sie so bloßer Sitte entgegenstellt: „Der besondere Werth
des von der Sittlichkeit der Sitte gegenüber Vorgeschriebenen beruht darin,
daß während die Sitte durch gesellschaftlich übermächtigen Willen entsteht
und gehütet wird, die Sittlichkeit ihr Materialprincip an der durch die geläu-
terste Werthentscheidung gefundenen Bedeutung für die Erhaltung der Gesell-
schaft hat." (Schäffle 1878, 4, 184).
N.s Wendung „Sittlichkeit der Sitte" markiert eine Wendung sowohl der
Blickrichtung als auch der postulierten Kausalverhältnisse: Es wird nicht län-
ger in (transzendental)philosophischer Manier darauf geschaut, wie denn die
(ideale) Sittlichkeit die (rohen) Sitten kultivieren könnte, noch wird behauptet,
dass die Sittlichkeit irgendwie kausal unabhängig von Sitte existiere (worin
man wie Schacht 2013, 333 bei N. das Aufnehmen eines Hegelschen Motives
sehen kann). Die „Sittlichkeit der Sitte" ebnet individuelle Differenzen erbar-
mungslos ein und zwingt den Einzelnen das Gattungsinteresse auf. Die „Sitt-
lichkeit der Sitte" als „ungeheure Arbeit" (293, 8) ist der Selbstformungspro-
zess der Gattung, der zulasten des Individuums geht: „,autonom' und ,sittlich'
schliesst sich aus" (293, 23 f.).
293, 20-23 so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine
Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wie-
der losgekommene, das autonome übersittliche Individuum] In N.s Werken ist
die begriffliche Paarung von Souveränität und Individuum in GM II 2 singulär.
Dass sich ein stolzes „Wir" bei N. Souveränität als Selbstmacht zuschreibt,
kommt hingegen gelegentlich vor, so in FW 252: „,Lieber schuldig bleiben, als
mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt!' — so will es unsere Souve-
ränität." (KSA 3, 516, 10-12). In N.s nachgelassenen Notizen begegnet die Paa-
rung seit einer Lektüre von Eduard von Hartmanns Phänomenologie des sittli-
chen Bewusstseins, die in NL 1883, KSA 10, 7[10], 241, 12-15 dokumentiert ist:
„Hartmann p. 776. die Souveränität des Individuums fällt bei ihm mit
 
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