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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0263
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244 Zur Genealogie der Moral

von ihm am Rand mit Strich markiert). Miyasaki 2010 argumentiert, N. kenne
sehr wohl einen positiven Begriff des Gewissens, während dieser bei Freud
negativ besetzt bleibe. N. wolle die Affirmation, während Freud Kultur prinzipi-
ell für unglücksträchtig, schuldgefühlerzeugend halte. Kritisch gegen Miyasaki
argumentieren Gödde/Buchholz 2011, die den Gegensatz der Gewissenskonzep-
tionen bei Freud und N. nicht für so fundamental halten, während Butler 1997,
63-82 aus beiden Ansätzen systematisch Profit schlagen will.

3.
Der Beginn von Abschnitt II 3 bleibt zunächst beim „Gewissen" des „souverai-
nen Menschen", mit dem GM II 2 schließt, das hier „seine[.] höchste[.], fast
befremdliche[.] Ausgestaltung" (294, 29 f.) gefunden habe. Es sei, wird wieder-
holt (vgl. 293, 17 f.), die „reife Frucht", aber auch „späte Frucht" (295, If.)
eines unabsehbar langen historischen Prozesses, von der lange nichts zu sehen
gewesen sei. „Niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiss auch Alles am
Baume vorbereitet und gerade auf sie hin im Wachsen war!" (295, 4-6) Wie in
den beiden vorangegangenen Abschnitten wird auch hier mit der Erwartung
der herkömmlichen spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie ge-
spielt, nämlich der Erwartung eines geschichtlichen Fortschritts hin zu besse-
ren, weltbürgerlichen Zuständen. Zwar hält GM II 3 diese Erwartung zunächst
aufrecht, erklärt aber das Gegenteil dessen, was die spekulativ-universalisti-
sche Geschichtsphilosophie von Turgot und Iselin über Kant bis Hegel sich
erhofft hatte, zum Endzweck der Geschichte: Nicht auf die größtmögliche Frei-
heit aller Menschen läuft der historische Prozess zu, sondern auf die Selbstbe-
freiung einiger weniger souveräner Individuen aus den Zwängen überlieferter
Sittlichkeit. Es bedürfte jedenfalls einiger dialektischer Anstrengungen, um
den Nachweis zu erbringen, hier werde gefordert, alle Menschen sollten souve-
räne Individuen werden. Es fragt sich abermals, welchen Status N. selbst der
geschichtsphilosophischen Spekulation des sprechenden „Wir" in GM II 3 ein-
zuräumen bereit war: Eher denn als ernstgemeinte Geschichtsprophetie
scheint sie bloße Provokation gedacht, als tentativ-temptatorische Gegenrede
zum geschichtsphilosophischen Normalprogramm, das noch ganz in die „Sitt-
lichkeit der Sitte" verstrickt war.
Ein Gedankenstrich (295, 6) bricht die geschichtsphilosophische Expekto-
ration ab und kehrt zur Ausgangsfrage von GM II 1 zurück, und diesmal ohne
(wie in 291, 6 f.) „die Natur" als handelndes Subjekt zu bemühen: „,Wie macht
man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss?"' (295, 6 f.). Diese Menschen-Tiere
seien hochgradig vergesslich, so dass „man" zu drakonischen Maßnahmen
 
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