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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0266
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Stellenkommentar GM II 3, KSA 5, S. 295 247

haften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?"...] Den Aus-
druck „Menschen-Thier" zur Kennzeichnung frühmenschlicher Lebensformen
benutzt N. sonst nirgends; er konnte ihm aber beispielsweise begegnen bei der
wiederholt belegten, aber von der Forschung bislang kaum beachteten Lektüre
von Henry Charles Careys Lehrbuch der Volkswirtschaft und Socialwissenschaft
(vgl. die knappen Bemerkungen bei Vivarelli 2008, 532 f.; Brobjer 2014, 312 f.
u. Fornari 2015, 238). Carey 1870, 516 schreibt in einer Kapitelzusammenfas-
sung: „Die Fähigkeit zum Fortschritt steht in geradem Verhältniss zur Vollkom-
menheit der Organisation. Der Mensch deshalb am meisten der Vervollkomm-
nung fähig, indem er aus dem blossen Menschenthier zum wahren, seiner
Familie, seinem Nebenmenschen und seinem Schöpfer verantwortlichen
Menschen wird." Näher als eine solch optimistisch-moralisierende und an-
thropotheologisierende Sicht auf die menschliche Entwicklung liegt mit Blick
auf GM aber ein anderer, darwinistisch-illusionsloser Referenzautor für die
menschliche Kulturgeschichte, nämlich Friedrich von Hellwald, dessen Werk
N. sich noch einmal kurz vor der Abfassung von GM aus der Churer Bibliothek
entliehen hatte. Hellwald führt den Begriff des Menschentiers bei der Diskussi-
on der Frage ein, ob es je (Vor-)Menschen ohne Sprache gegeben habe - eine
Frage, die er unter Rückgriff auf die individuelle kindliche Sprachentwicklung
bejaht: „Zweierlei Thatsachen stehen aber doch jedenfalls fest: Einmal, dass
es sprachlose Menschenthiere wirklich gibt, dann, dass sich aus diesen sprach-
losen Menschenthieren die ganze gebildete und hochgesittete Menschheit mit
ihrer Sprache entwickelt. Aber nicht bloss unsere Säuglinge sind solche
sprachlose Menschenthiere, sondern es ist bekannt und durch genügende Bei-
spiele beglaubigt, dass das ohne Erziehung in der Wildniss, ohne menschli-
chen Umgang aufwachsende Menschenthier sprachlos bleibt, es höchstens zu
unartikulirten Lauten, zu einfachen Gefühlsäusserungen bringt." (Hellwald
1883-1884, 1, 59, vgl. ebd. 60 u. 62) Hellwald verwendet den Ausdruck „Men-
schenthier" tatsächlich nur im Kontext der Sprachentwicklung zur Kennzeich-
nung einer „alalen", also sprachlosen Hominidenform. Für ihn „ist die
menschliche Sprache [...] das einzige ausschliessliche Charakteristikum des
Menschen" und hat entsprechend „ein ungemein grosses Gewicht", „weil die
Fähigkeit des unmittelbaren Gedankenaustausches durch den Laut angeblich
kein Thier besitzt" (ebd., 61). Die Frage der Sprachentstehung, die Hellwald
umtreibt, lässt die Sprecherinstanz in GM hingegen völlig kalt; für sie ist das
„Menschen-Thier" nicht dasjenige Wesen, das noch nicht sprechen kann, son-
dern dessen Gedächtnis noch nicht verlässlich funktioniert, noch nicht in die
(eigene) Vergangenheit und Zukunft ausgreifen kann. Hellwald wiederum
blendet die Entwicklung des Erinnerungsvermögens vollkommen aus.
295, 12 f. der ganzen Vorgeschichte des Menschen] Die Rede von „Vorgeschich-
te" scheint zunächst zu suggerieren, die gleich beschriebenen Praktiken, den
 
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