250 Zur Genealogie der Moral
1872/73 gehaltenen Vorlesung Darstellung der antiken Rhetorik hat N. auf diese
rhetorische Tradition verwiesen, spricht da dann auch über „Mnemoniker",
„Mnemonik", Simonides als „Erfinder der Gedächtnisskunst", „Gedächtniss-
örter" und „Gedächtnissbild" (KGW II 4, 499-501). Thüring 2001b, 344-353
weist in einer Konkordanz nach, dass es sich hierbei um meist wörtliche Über-
nahmen aus Richard Volkmanns Die Rhetorile der Griechen und Römer handelt
(Volkmann 1872, 480-485). Auch später, so in UB II HL, spielt N. mit Elemen-
ten der rhetorischen Mnemotechnik (Bourquin 2009).
295, 14 f. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht
aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss"] Eine nachgelassene Aufzeich-
nung N.s ,,[w]ider die strafende Gerechtigkeit" (vgl. dazu Gschwend 2001,
144; Hoyer 2002, 455 u. Fornari 2009, 80) spricht auch über das Funktionieren
des Gedächtnisses - es handelt sich, abgesehen von GM II 3, KSA 5, 295, 32
und einem frühen Brief um die einzige Stelle in N.s Werk und philosophischem
Nachlass, die mit einem Ausdruck aus dem Wortfeld der „Mnemonik" operiert:
„,Dem Kinde einen Schlag! es wird die Handlung nicht wieder thun'. Hier ist
also der Schlag eine Erinnerung an die Belehrung: der Schmerz als
stärkster Erreger des Gedächtnisses. Daraus ergäbe sich die al-
lergrößte Milderung aller Strafen: und möglichste Gleichset-
zung derselben! Nur als mnemotechnische Mittel! Da genügt wenig!"
(NL 1879, KSA 8, 42[61], 606, 8 f. u. 11-18) Diese Überlegungen haben eine Pa-
rallele in Leon Dumonts Theorie scientifique de la sensibilite, le plaisir et la
peine, die N. in deutscher Übersetzung unter dem Titel Vergnügen und Schmerz.
Zur Lehre von den Gefühlen besessen und intensiv studiert hat. Eine Reihe von
Nachlassnotaten aus dem Jahr 1883, die von der Priorität des Schmerzes han-
deln, sind direkte Dumont-Paraphrasen (NL 1883, KSA 10, 7[179], 300 u. 7[233]-
[236], 314 nach Dumont 1876, 30-37, nachgewiesen bei Berti/D'Iorio/Fornari/
Simonetta 1993 u. Berti 1997); mit Brobjer 2008b, 86 und Liebscher 2014, 368 f.
wird man davon ausgehen können, dass N. den Band bereits in den 1870er
Jahren konsultiert hat. Bei Dumont 1876, 56 hat sich N. folgende Passage mit
Randstrich markiert (seine Durchstreichung): „Man erwirbt nach und nach
Lust und Schmerz, und man hat beide gefühlt lange ehe man in das Alter tritt,
wo man für solche Begriffe befähigt wird. Das Kind fühlt Lust und Schmerz —
kümmert es sich dabei um die moralische Vollkommenheit oder Unvollkom-
menheit? Freude und Schmerz hängen nicht von unsern Begriffen von Gut und
Schlecht ab; im Gegentheil bildet unser moralischer Sinn sich zum grossen
Theil nach der Erinnerung der Schmerzen und der Vergnügungen, die wir per-
sönlich empfunden oder an andern beobachtet haben." (Dumont 1876, 56)
Nach Dumont ist Moral also nichts Urwüchsiges, sondern sie entsteht durch
Konditionierung, nämlich als Gedächtnisleistung aufgrund von Schmerz- und
1872/73 gehaltenen Vorlesung Darstellung der antiken Rhetorik hat N. auf diese
rhetorische Tradition verwiesen, spricht da dann auch über „Mnemoniker",
„Mnemonik", Simonides als „Erfinder der Gedächtnisskunst", „Gedächtniss-
örter" und „Gedächtnissbild" (KGW II 4, 499-501). Thüring 2001b, 344-353
weist in einer Konkordanz nach, dass es sich hierbei um meist wörtliche Über-
nahmen aus Richard Volkmanns Die Rhetorile der Griechen und Römer handelt
(Volkmann 1872, 480-485). Auch später, so in UB II HL, spielt N. mit Elemen-
ten der rhetorischen Mnemotechnik (Bourquin 2009).
295, 14 f. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht
aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss"] Eine nachgelassene Aufzeich-
nung N.s ,,[w]ider die strafende Gerechtigkeit" (vgl. dazu Gschwend 2001,
144; Hoyer 2002, 455 u. Fornari 2009, 80) spricht auch über das Funktionieren
des Gedächtnisses - es handelt sich, abgesehen von GM II 3, KSA 5, 295, 32
und einem frühen Brief um die einzige Stelle in N.s Werk und philosophischem
Nachlass, die mit einem Ausdruck aus dem Wortfeld der „Mnemonik" operiert:
„,Dem Kinde einen Schlag! es wird die Handlung nicht wieder thun'. Hier ist
also der Schlag eine Erinnerung an die Belehrung: der Schmerz als
stärkster Erreger des Gedächtnisses. Daraus ergäbe sich die al-
lergrößte Milderung aller Strafen: und möglichste Gleichset-
zung derselben! Nur als mnemotechnische Mittel! Da genügt wenig!"
(NL 1879, KSA 8, 42[61], 606, 8 f. u. 11-18) Diese Überlegungen haben eine Pa-
rallele in Leon Dumonts Theorie scientifique de la sensibilite, le plaisir et la
peine, die N. in deutscher Übersetzung unter dem Titel Vergnügen und Schmerz.
Zur Lehre von den Gefühlen besessen und intensiv studiert hat. Eine Reihe von
Nachlassnotaten aus dem Jahr 1883, die von der Priorität des Schmerzes han-
deln, sind direkte Dumont-Paraphrasen (NL 1883, KSA 10, 7[179], 300 u. 7[233]-
[236], 314 nach Dumont 1876, 30-37, nachgewiesen bei Berti/D'Iorio/Fornari/
Simonetta 1993 u. Berti 1997); mit Brobjer 2008b, 86 und Liebscher 2014, 368 f.
wird man davon ausgehen können, dass N. den Band bereits in den 1870er
Jahren konsultiert hat. Bei Dumont 1876, 56 hat sich N. folgende Passage mit
Randstrich markiert (seine Durchstreichung): „Man erwirbt nach und nach
Lust und Schmerz, und man hat beide gefühlt lange ehe man in das Alter tritt,
wo man für solche Begriffe befähigt wird. Das Kind fühlt Lust und Schmerz —
kümmert es sich dabei um die moralische Vollkommenheit oder Unvollkom-
menheit? Freude und Schmerz hängen nicht von unsern Begriffen von Gut und
Schlecht ab; im Gegentheil bildet unser moralischer Sinn sich zum grossen
Theil nach der Erinnerung der Schmerzen und der Vergnügungen, die wir per-
sönlich empfunden oder an andern beobachtet haben." (Dumont 1876, 56)
Nach Dumont ist Moral also nichts Urwüchsiges, sondern sie entsteht durch
Konditionierung, nämlich als Gedächtnisleistung aufgrund von Schmerz- und