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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0293
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274 Zur Genealogie der Moral

300, 17-19 — ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich
und lange mit Blut begossen worden] Vgl. Hartung 2003, 50, Fn. 31, der auf eine
ähnliche Stelle bei Ihering verweist. Dass es in der Frühgeschichte des Men-
schen bei Schuld(en)-Fragen blutig zu und her gegangen sei, werden N.s
rechtshistorische Gewährsmänner Kohler und Post zu betonen nicht müde:
Von Kohler hat N. eine Abhandlung Zur Lehre von der Blutrache (vgl. zum The-
ma NK 298, 15-19) zur Kenntnis genommen. Für Post sind Blutsverwandtschaft,
Blutschuld, Blutrache, Blutsühne gleichfalls stetes Thema. Er schreibt beispiels-
weise: „Der Grundsatz, dass der Thäter auch für alle Ungefährsverletzungen ver-
antwortlich ist, scheint ein ganz allgemeiner zu sein. Seine Basis hat er wohl
zunächst in der Geschlechterverfassung. Hier verlangt Blut unbedingt Blut, ohne
Rücksicht auf Absicht, Schuld oder Zurechnungsfähigkeit des Thäters. Die Blut-
rache wird geübt, weil das Geschlecht geschädigt ist." (Post 1880-1881, 1, 231,
N.s Unterstreichung, erster und letzter Satz mit Randstrichen markiert.)
300, 21-23 (selbst beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ riecht nach
Grausamkeit...)] Das Grausame an Kants Kategorischem Imperativ, den AC 11
dann „als lebensgefährlich" (KSA 6, 177, 23) qualifizieren wird, besteht
für die Sprecherinstanz darin, dass er der selbstgesetzgebenden Vernunft jedes
sinnliche Interesse untersagt. Nach einer unpersönlichen Pflicht sein Leben
zu organisieren, wie es der Kategorische Imperativ nach dieser Lesart fordert,
erscheint als ein Akt der Selbstkastration. Zur durchweg ablehnenden Ein-
schätzung von Kants Kategorischem Imperativ (dessen Selbstgesetzgebungsdi-
mension dabei konsequent ausgeblendet bleibt) in N.s Texten siehe NK KSA 5,
110, 3-11; NK KSA 6, 236, lO f. und NK KSA 6, 238, 29-239, 1.
300, 23 f. jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-Verhäkelung
„Schuld und Leid"] Ohne Anführungszeichen hat N. das Wortpaar schon einmal
benutzt, und zwar gleich zu Beginn seiner im Sommersemester 1870 in Basel
gehaltenen Vorlesung Einleitung in die Tragödie des Sophocles, als er über So-
phokles' König Ödipus sprach und darüber, dass die „neuere[.] Aesthetik" die-
ses Werk für „eine schlechte Tragödie" halte, „weil in ihr die ,Antinomie von
absolutem Schicksal und Schuld' ungelöst bleibt. Die klassische Schicksalsidee
leidet nach ihr an einem ,unversöhnten Widerspruche'; das klass. Altherthum
kennt ein vorausgesetztes, neidisch auflauerndes, nicht aus den Handlungen
der Menschen sich entwickelndes Schicksal", und der Oedipus ist der beredets-
te Herold desselben." (KGW II 3, 7, 5-11) Die in Anführungszeichen gesetzten
Passagen sind Zitate aus Friedrich Theodor Vischers Aesthetik (Vischer 1857, 3,
1426, vgl. hierzu Arenas-Dolz 2012, 212 u. 221) Daran anschließend schreibt N.
„Der populärste Ausdruck für diese Theorie [sc. der „neueren Aesthetik"] ist
der Terminus ,poetische Gerechtigkeit'. Schuld und Leid in genauer Proportion
 
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