280 Zur Genealogie der Moral
türe im Sommer 1875 mit den Worten empfahl: „nicht weil es die heiterste,
sondern weil es die herbste Lektüre ist" (KSB 5/KGB II 5, Nr. 494, S. 126,
Z. 45 f.), notierte er gleichzeitig: „Eins der schädlichsten Bücher ist der Don
Quixote." (NL 1875, KSA 8, 8[7], 130, 10, vgl. NL 1880, KSA 9, 4[19], 106, 7 f.)
Ein Buch, das sich der Schüler N. bereits am 15. 08. 1859 von seiner Mutter zum
Geburtstag gewünscht hatte, und zwar in der Übersetzung von Ludwig Tieck
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 87, S. 72, Z. 13 f.). In N.s Privatbibliothek hat sich aller-
dings kein Werk von Cervantes erhalten. Ein Hauptmotiv aus NL 1876/77,
KSA 8, 23[140], 453 f. kehrt wieder in NL 1883, KSA 10, 8[7], 329, 14-18, wobei
Don Quijote hier nun als (mnemotechnisches) Stichwort ohne weitere Spezifi-
kation aufscheint: „Der Scherz und Übermuth an anderen Personen trug ehe-
dem einen für uns schauderhaften Charakter: namentlich an Kriegsgefange-
nen. An Verrückten: noch der Don Quixote! Das Lachen ist ursprünglich
die Äußerung der Grausamkeit." Das ist besonders bemerkenswert, weil
dieses Notat im Kontext langer Paraphrasen aus Posts Bausteinen für eine allge-
meine Rechtswissenschaft steht und, wie Stingelin 1991, 419 nachweist, im Blick
auf die Kriegsgefangenen Ähnlichkeiten mit Post 1880-1881, 2, 55 aufweist.
Jedoch ist von Cervantes und Don Quijote bei Post nicht die Rede; N. scheint
hier das rechtshistorische Material mit einer eigenen Erinnerung angereichert
zu haben. Bei der Ausarbeitung der Zweiten Abhandlung von GM dürfte er bei
der Durchsicht von Post-Notaten auch erneut an Don Quijote erinnert worden
sein.
Die Episode, auf die 301, 31-302, 3 anspielt, findet sich im zweiten Teil des
Don Quijote: Der Titelheld gerät an ein Herzogspaar, das schon den ersten Teil
von Cervantes' Werk gelesen hat und nun den Ritter an seinen Hof einlädt, wo
es derbe Späße mit ihm und anderen leidensfähigen Geschöpfen treibt (Cervan-
tes 1860, 2, 223-427 [Buch 8, Kapitel 13 - Buch 10, Kapitel 5]). Zu N.s Cervantes-
Rezeption siehe neben den wichtigen Hinweisen bei Brusotti 1994, 452 f. (ferner
bei Corradini 1987) v. a. Arenas-Dolz 2019.
302, 3-5 Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler — das ist ein har-
ter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz] Ger-
hardt 2004, 93 sieht in diesem „Hauptsatz" die Gegenrede zur Einsicht des
Sokrates, dass es besser sei, Übles zu erleiden als Übles zu tun (Platon: Gorgias
469 b8-c2). Allerdings verzichtet GM II 6 gerade auf die für die Auseinanderset-
zung des Sokrates mit Polos im Gorgias charakteristische Differenz zwischen
dem Passiven und dem Aktiven: Auch das Leiden-Sehen ist eine Aktivität.
302, 5-8 den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden:
denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Men-
schen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen"] Auf die grausa-
türe im Sommer 1875 mit den Worten empfahl: „nicht weil es die heiterste,
sondern weil es die herbste Lektüre ist" (KSB 5/KGB II 5, Nr. 494, S. 126,
Z. 45 f.), notierte er gleichzeitig: „Eins der schädlichsten Bücher ist der Don
Quixote." (NL 1875, KSA 8, 8[7], 130, 10, vgl. NL 1880, KSA 9, 4[19], 106, 7 f.)
Ein Buch, das sich der Schüler N. bereits am 15. 08. 1859 von seiner Mutter zum
Geburtstag gewünscht hatte, und zwar in der Übersetzung von Ludwig Tieck
(KSB 8/KGB III 5, Nr. 87, S. 72, Z. 13 f.). In N.s Privatbibliothek hat sich aller-
dings kein Werk von Cervantes erhalten. Ein Hauptmotiv aus NL 1876/77,
KSA 8, 23[140], 453 f. kehrt wieder in NL 1883, KSA 10, 8[7], 329, 14-18, wobei
Don Quijote hier nun als (mnemotechnisches) Stichwort ohne weitere Spezifi-
kation aufscheint: „Der Scherz und Übermuth an anderen Personen trug ehe-
dem einen für uns schauderhaften Charakter: namentlich an Kriegsgefange-
nen. An Verrückten: noch der Don Quixote! Das Lachen ist ursprünglich
die Äußerung der Grausamkeit." Das ist besonders bemerkenswert, weil
dieses Notat im Kontext langer Paraphrasen aus Posts Bausteinen für eine allge-
meine Rechtswissenschaft steht und, wie Stingelin 1991, 419 nachweist, im Blick
auf die Kriegsgefangenen Ähnlichkeiten mit Post 1880-1881, 2, 55 aufweist.
Jedoch ist von Cervantes und Don Quijote bei Post nicht die Rede; N. scheint
hier das rechtshistorische Material mit einer eigenen Erinnerung angereichert
zu haben. Bei der Ausarbeitung der Zweiten Abhandlung von GM dürfte er bei
der Durchsicht von Post-Notaten auch erneut an Don Quijote erinnert worden
sein.
Die Episode, auf die 301, 31-302, 3 anspielt, findet sich im zweiten Teil des
Don Quijote: Der Titelheld gerät an ein Herzogspaar, das schon den ersten Teil
von Cervantes' Werk gelesen hat und nun den Ritter an seinen Hof einlädt, wo
es derbe Späße mit ihm und anderen leidensfähigen Geschöpfen treibt (Cervan-
tes 1860, 2, 223-427 [Buch 8, Kapitel 13 - Buch 10, Kapitel 5]). Zu N.s Cervantes-
Rezeption siehe neben den wichtigen Hinweisen bei Brusotti 1994, 452 f. (ferner
bei Corradini 1987) v. a. Arenas-Dolz 2019.
302, 3-5 Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler — das ist ein har-
ter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz] Ger-
hardt 2004, 93 sieht in diesem „Hauptsatz" die Gegenrede zur Einsicht des
Sokrates, dass es besser sei, Übles zu erleiden als Übles zu tun (Platon: Gorgias
469 b8-c2). Allerdings verzichtet GM II 6 gerade auf die für die Auseinanderset-
zung des Sokrates mit Polos im Gorgias charakteristische Differenz zwischen
dem Passiven und dem Aktiven: Auch das Leiden-Sehen ist eine Aktivität.
302, 5-8 den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden:
denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Men-
schen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen"] Auf die grausa-