Stellenkommentar GM II 7, KSA 5, S. 302 283
Hintergrund gehabt als zu verhindern, dass sich die Götter über die ihnen ge-
botenen Schauspiele zu langweilen begännen: Wäre der menschliche Wille
frei, könnte sich auch immer wieder etwas Neues, Überraschendes, Fesselndes
ereignen. „Und, wie schon gesagt, auch an der grossen Strafe ist so viel Fest-
liches!..." (305, 25 f.).
Das in GM II 7 entworfene Griechenbild ist bemerkenswert: Die Griechen
als „Schauspieler-Volk" (305, 8) par excellence tun für ihre Götter offensichtlich
alles, erfinden den freien Willen für sie, bieten sich selbst als blutige Opfer für
die göttliche Schaulust dar. Hat GM I 15 noch Hohn und Spott über das widerli-
che Ressentiment des christlichen Schriftstellers Tertullian ausgegossen, der
sich das Jüngste Gericht als blutiges Schauspiel ausgemalt hatte (vgl. NK 284,
10-285, 22), kommen die Griechen in GM II 7 fast ungeschoren davon, obwohl
sie augenscheinlich in der Lust an der Selbstquälerei mindestens so weit gehen
wie später die Christen. Die Genealogie des freien Willens in diesem Abschnitt
unterbindet jede moralische, humanistische und anthropozentrische Interpre-
tation der griechischen Kulturleistung; auch das Schauspiel, sprich: die Tragö-
die, verspricht keine moralische Läuterung mehr - und den von den Griechen
erdachten Göttern ist es nur um Unterhaltung zu tun. Die Griechen erscheinen
zwar als Immoralisten-Volk, das aber doch nur in theologischem Interesse
agiert - ein Interesse, das sogar den freien Willen zu erfinden angeleitet habe,
wie es die besonders tückische antiphilosophische Bosheit von GM II 7 will.
Schließlich fällt auf, welchen starken Einfluss Götterbilder auf die Heraus-
bildung von Moral gehabt haben müssen - ein Aspekt, der in GM I zumindest
weitgehend ausgeblendet geblieben ist.
302, 19-22 Die Verdüsterung des Himmels über dem Menschen hat immer im
Verhältniss dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor dem
Menschen gewachsen ist.) Ein erstes Zeugnis dafür bietet bereits die Paradies-
geschichte 1. Buch Mose, wonach sich Adam und Eva zunächst ihrer Nacktheit
nicht schämten (1. Mose 2, 25); nach dem Verzehr der verhängnisvollen Frucht
hingegen schon (1. Mose 3, 7). In 302, 19-22 wird Scham offensichtlich nicht
im Sinne von Ehrfurcht, von Scheu angesichts einer erhabenen Macht und
Übermacht verstanden, die N.s Schriften wiederholt positiv bewerten (vgl. z. B.
NK KSA 6, 270, 19-28; NK KSA 5, 57, 27-29 u. NK KSA 6, 439, 8 f. Eingehend
untersucht Häubi 2017 anhand von JGB N.s Schambegriff). Vielmehr hat sie
hier eine reflexive Dimension: Der Mensch schämt sich vor sich selbst und
seinesgleichen ob seiner Miserabilität, seiner Nichtswürdigkeit, die von Chris-
ten und in ihrem Gefolge von pessimistischen Philosophen in schulmäßigem
Sinn gerne in grellen Farben ausgemalt wird. Insbesondere die Sexualität soll
dem Menschen Anlass geben, sich zu schämen. Philipp Mainländer, von dem
sich GM II 7 gleich ein Beispiel borgen wird (NK 303, 2-8), findet dazu bei
Hintergrund gehabt als zu verhindern, dass sich die Götter über die ihnen ge-
botenen Schauspiele zu langweilen begännen: Wäre der menschliche Wille
frei, könnte sich auch immer wieder etwas Neues, Überraschendes, Fesselndes
ereignen. „Und, wie schon gesagt, auch an der grossen Strafe ist so viel Fest-
liches!..." (305, 25 f.).
Das in GM II 7 entworfene Griechenbild ist bemerkenswert: Die Griechen
als „Schauspieler-Volk" (305, 8) par excellence tun für ihre Götter offensichtlich
alles, erfinden den freien Willen für sie, bieten sich selbst als blutige Opfer für
die göttliche Schaulust dar. Hat GM I 15 noch Hohn und Spott über das widerli-
che Ressentiment des christlichen Schriftstellers Tertullian ausgegossen, der
sich das Jüngste Gericht als blutiges Schauspiel ausgemalt hatte (vgl. NK 284,
10-285, 22), kommen die Griechen in GM II 7 fast ungeschoren davon, obwohl
sie augenscheinlich in der Lust an der Selbstquälerei mindestens so weit gehen
wie später die Christen. Die Genealogie des freien Willens in diesem Abschnitt
unterbindet jede moralische, humanistische und anthropozentrische Interpre-
tation der griechischen Kulturleistung; auch das Schauspiel, sprich: die Tragö-
die, verspricht keine moralische Läuterung mehr - und den von den Griechen
erdachten Göttern ist es nur um Unterhaltung zu tun. Die Griechen erscheinen
zwar als Immoralisten-Volk, das aber doch nur in theologischem Interesse
agiert - ein Interesse, das sogar den freien Willen zu erfinden angeleitet habe,
wie es die besonders tückische antiphilosophische Bosheit von GM II 7 will.
Schließlich fällt auf, welchen starken Einfluss Götterbilder auf die Heraus-
bildung von Moral gehabt haben müssen - ein Aspekt, der in GM I zumindest
weitgehend ausgeblendet geblieben ist.
302, 19-22 Die Verdüsterung des Himmels über dem Menschen hat immer im
Verhältniss dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor dem
Menschen gewachsen ist.) Ein erstes Zeugnis dafür bietet bereits die Paradies-
geschichte 1. Buch Mose, wonach sich Adam und Eva zunächst ihrer Nacktheit
nicht schämten (1. Mose 2, 25); nach dem Verzehr der verhängnisvollen Frucht
hingegen schon (1. Mose 3, 7). In 302, 19-22 wird Scham offensichtlich nicht
im Sinne von Ehrfurcht, von Scheu angesichts einer erhabenen Macht und
Übermacht verstanden, die N.s Schriften wiederholt positiv bewerten (vgl. z. B.
NK KSA 6, 270, 19-28; NK KSA 5, 57, 27-29 u. NK KSA 6, 439, 8 f. Eingehend
untersucht Häubi 2017 anhand von JGB N.s Schambegriff). Vielmehr hat sie
hier eine reflexive Dimension: Der Mensch schämt sich vor sich selbst und
seinesgleichen ob seiner Miserabilität, seiner Nichtswürdigkeit, die von Chris-
ten und in ihrem Gefolge von pessimistischen Philosophen in schulmäßigem
Sinn gerne in grellen Farben ausgemalt wird. Insbesondere die Sexualität soll
dem Menschen Anlass geben, sich zu schämen. Philipp Mainländer, von dem
sich GM II 7 gleich ein Beispiel borgen wird (NK 303, 2-8), findet dazu bei