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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0304
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Stellenkommentar GM II 7, KSA 5, S. 302-303 285

menschlichen Geschlechtes auf eine Alles umfassende Weise dargelegt wird.
Unreine Erzeugung, ekelhafte Ernährung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des
Stoffes woraus der Mensch sich entwickelt, Hülflosigkeit des Kindes, Quälerei
in männlichen Jahren, Hinfälligkeit des Alters, Kürze des Lebens u. s. w. - Ist
der Mensch auch nur einem Baume vergleichbar? Dieser duftet in lieblichen
Gerüchen, jener verbreitet scheußlichen Gestank; dieser trägt herrliche Früch-
te, jener Speichel, Urin und Koth." (Raumer 1841, 2, 597) Raumers Text weicht
am Ende von dem in GM II 7 mit Zitatanführungszeichen versehenen Passus
ab. Die Kontraktion stammt aber nicht von N. selbst, sondern von Philipp
Mainländer, der die Passage aus Raumer modifiziert und als Zitat für die „ver-
schiedene[n] Uebel, welche Papst Innocenz III., wie folgt, zusammenstellte",
ohne Quellennachweis eingerückt setzen lässt: „Unreine Erzeugung, ekelhafte
Ernährung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, woraus der Mensch sich
entwickelt, scheußlicher Gestank, Absonderung von Speichel, Urin und Koth."
(Mainländer 1876, 206) Von einer Originallektüre des mittelalterlichen Textes
sind wir bei N. also bereits mindestens zwei Vermittlungsschritte entfernt.
303, 8-28 Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten gegen
das Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes Fragezeichen, thut
man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das
Leiden-machen nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs,
einen eigentlichen Verführungs-Köder zum Leben sah. Vielleicht that damals —
den Zärtlingen zum Trost gesagt — der Schmerz noch nicht so weh wie heute;
wenigstens wird ein Arzt so schliessen dürfen, der Neger (diese als Repräsentan-
ten des vorgeschichtlichen Menschen genommen —) bei schweren inneren Ent-
zündungsfällen behandelt hat, welche auch den bestorganisirten Europäer fast
zur Verzweiflung bringen; — bei Negern thun sie dies nicht. (Die Curve der
menschlichen Schmerzfähigkeit scheint in der That ausserordentlich und fast
plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder Zehn-Millio-
nen der Übercultur hinter sich hat; und ich für meine Person zweifle nicht, dass,
gegen Eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens
gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissen-
schaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Be-
tracht kommen.)] Pessimisten pflegten Goethe zu zitieren: „Wir leiden Alle am
Leben" (Mainländer 1876, 209) und wähnten mit Schopenhauer zu erkennen,
„dass alles Leben Leiden ist" (ebd., 216), gelegentlich auch, um das Leiden als
Erlösungsweg anzupreisen: „Alle, die das Schicksal hinabstürzt in die Nacht
der völligen Vernichtung, haben sich die Befreiung von sich selbst theuer er-
kauft durch Leiden allein." (Ebd., 261) Mainländer verbindet seinen Welterlö-
sungspessimismus aber auch mit einer kulturkritischen Beobachtung, die die
Überlegungen von GM II 7 präludiert: „Ich sagte oben, daß das Hauptgesetz
 
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