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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0306
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Stellenkommentar GM II 7, KSA 5, S. 303-304 287

Der „Neger" (dazu Gilman 1980) stammt also ebenso wie die junge, überzivili-
sierte Frau aus dieser Vorlage, die N. freilich mit direkten Tiervergleichen noch
polemisch pointiert und überdies geschichtlich verlängert indem der „Neger"
„als Repräsentant[.] des vorgeschichtlichen Menschen" auftritt (vgl. NK 295,
12 f.). Übrigens hat schon Schopenhauer 1873-1874, 2, 370 festgestellt, dass
„die höhere intellektuelle Kraft für viel größere Leiden empfänglich" mache,
„als die Stumpferen je empfinden können".
303, 28-34 Vielleicht ist es sogar erlaubt, die Möglichkeit zuzulassen, dass auch
jene Lust an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu sein brauchte: nur
bedürfte sie, im Verhältniss dazu, wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer
gewissen Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich in's Imaginative
und Seelische übersetzt auftreten] In NL 1880/81, KSA 9, 8[99], 404, If. hat N.
notiert: „Sublimirung der Grausamkeit: Mitleid erregen." Psychoana-
lytisch interessierten Interpreten ist die Nähe solcher Überlegungen zu späte-
ren Äußerungen Sigmund Freuds natürlich aufgefallen (vgl. Gasser 1997, 324,
der allerdings zu Recht anmerkt, dass N. im Unterschied zu Freud dazu tendie-
re, „Sublimierung als Oberbegriff aller Triebverwandlungen einzuführen",
ebd., 325. Siehe auch Stack 1983, 287 und Nies 1991, 234, ferner Correa 2005).
Den Gedanken von 1880/81 nimmt der erste Punkt in einer Liste verschiedener
Formen von Sublimirung in NL 1886/87, KGW IX 6, W II 2, 43, 2-10 auf, der in
der ursprünglichen Form gelautet hat: „Die Sublimirung der Grausamkeit zum
tragischen Mitleiden" (W II 2, 43, 2), während der zweite Punkt die Sublimie-
rung „der Geschlechtsliebe zum amour-passion" (W II 2, 43, 4) betraf - ein
Thema, das JGB 189 behandeln sollte (vgl. NK KSA 5, 111, 1-5). Die kultur- und
moralhistorische Hypothese, die diesen Überlegungen zugrunde liegt, besagt,
dass Menschen unter zivilisatorischen Zwängen nicht mehr in der Lage sind,
ihre Affekte und Triebe direkt auszuagieren, also auch nicht ihre Lust an der
Grausamkeit. Wenn sie sie schon nicht mehr aktiv ausleben dürfen, bleibt ihnen
das Ventil, sie wenigstens ausagiert zu sehen, etwa stellvertretend in Kunstwer-
ken wie Romanen oder Theaterstücken, die von Akten der Grausamkeit handeln.
304, 2 das „tragische Mitleiden"] Vgl. NK KSA 1, 94, 17-21, ferner Hödl 2009,
316. Der Begriff des „tragischen Mitleids" oder „Mitleiden" bezieht sich auf die
berühmte Passage im 6. Abschnitt der Poetik des Aristoteles, wonach die Tragö-
die die Wirkung erzielt, mit Jammer/Mitleid (ekog) und Schaudern/Furcht
(pößog) eine Reinigung von Leidenschaften zu bewerkstelligen („öl eäeov Kat
(poßov nepaivovoa Tqv twv tolovtwv naOppdTwv KaOapaiv". Poetik 1449b 24-
27, vgl. z. B. NK KSA 6, 174, 4-7. Die mit dem Begriff der „Entladung" verbunde-
ne Übersetzung von Jacob Bernays in NK 322, 22-29). Lessing übersetzte in
seiner Hamburgischen Dramaturgie das Begriffspaar EÄeog und (poßog mit „Mit-
 
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