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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0308
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Stellenkommentar GM II 7, KSA 5, S. 304 289

phie seit Leibniz bekanntlich unter dem Stichwort der Theodizee, der Rechtfer-
tigung Gottes angesichts der Übel in der Welt, verhandelt, während es in der
(unbestimmten) Frühzeit, von der GM II 7 spricht, offenbar um die Selbstrecht-
fertigung gegangen sein soll - man sich in dieser Zeit wie später in der christli-
chen Ära der ,Sünder' selbst als „Übel", weil leidgeplagtes Wesen wahrgenom-
men hat. In UB I DS 7 diagnostizierte N., der gottlos gewordene David Friedrich
Strauß müsse nicht mehr (den ja nicht länger für existent gehaltenen) Gott
rechtfertigen, sondern bedürfe einer „vollständigen Kosmodicee" (KSA 1, 197,
24 f.), also einer Rechtfertigung des Kosmos (den Begriff der Kosmodizee hat
N. von Erwin Rohde entlehnt, vgl. dessen Brief vom 06. 02. 1872, KGB II 2,
Nr. 280, S. 534, Z. 40 u. N.s Antwort vom 15. 02. 1872, KSB 3, Nr. 201, S. 294, Z.
32. Gleichzeitig benutzte ihn auch Bahnsen 1872, 8, 14 u. 21, siehe NK KSA 1,
197, 24-26). Während der junge N. mit dem Gedanken einer ästhetischen Kos-
modizee liebäugelte - „im Buche [sc. GT] selbst kehrt der anzügliche Satz
mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt
gerechtfertigt ist", schrieb der späte N. im Rückblick von GT Versuch einer
Selbstkritik 5, KSA 1, 17, 10-12 -, erwägt GM II 7, in der Rätselhaftigkeit und
Problematik des Lebens selbst einen Rechtfertigungsgrund finden zu können:
Macht das „Leben als Räthsel, Leben als Erkenntnissproblem" das Dasein hin-
reichend interessant und abwechslungsreich, dass es sich lohnt, länger am
Leben zu bleiben? Nicht die Antworten, sondern die Fragen wären das, was
das Leben lebenswert erscheinen lässt, während nach 302, 22 f. ,,[d]er müde
pessimistische Blick" „Misstrauen zum Räthsel des Lebens" säht und also aus
diesem Rätsel keine Kraft, sondern nur Verdruss schöpft.
Von den „Räthseln des Lebens" zu reden, war schon in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts üblich (vgl. z. B. Heine 1830, 1, 304: „0 lös't mir das Räth-
sel des Lebens / Das qualvoll uralte Räthsel", oder Feuerbach 1846, 361). N.
hörte in Basel Jacob Burckhardt darüber sprechen, wie „die Geschichte uns
irgendwie das große und schwere Räthsel des Lebens auch nur geringsten-
theils" zu lösen helfen könne (Burckhardt 2000, 307), und notierte in NL 1881,
KSA 9, 13[9], 620, 6-8: „schon bei dem Muthe der Antwort auf das Räthsel
des Lebens hat sich bisweilen die Sphinx hinabgestürzt", und fügte in NL 1882,
KSA 9, 17[18], 668, 13 einem sehr ähnlichen Satz in Klammern noch ein „ego"
hinzu. Während die Rätsel des Lebens gassenläufig sind, gehört das „Erkennt-
nissproblem" in den akademischen Kontext; es wird von N.s fachphilosophi-
schen Zeitgenossen namentlich im Anschluss an Kant gebraucht (vgl. z. B. Ca-
spari 1881b und Natorp 1884 jeweils schon im Titel; Bahnsen 1882, 2, 9; Fischer
1882, 3, 272). In einer Aufzeichnung aus dem Umkreis von UB II HL hat N.
bereits früh markiert, dass die Fokussierung auf eine „Geschichte rein als Er-
kenntnissproblem" leicht jedwede „Rückwirkung auf das Leben" vermissen
 
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