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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0309
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290 Zur Genealogie der Moral

lasse (NL 1873, KSA 7, 29[138], 692, 28-30). GM II 7 schweißt hingegen Lebens-
und Erkenntnisproblematik zusammen und eröffnet immerhin die vage Aus-
sicht, aus dem ungelösten Erkenntnisproblem des Lebens gerade einen An-
sporn zu gewinnen, dieses Leben freudig zu leben (worin dieses Erkenntnis-
problem des Lebens eigentlich genau besteht, bleibt offen).
304, 21-31 „Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich er-
baut": so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls - und wirklich, war es nur die
vorzeitliche? Die Götter als Freunde grausamer Schauspiele gedacht - oh wie
weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsre europäische Vermenschli-
chung hinein! man mag hierüber etwa mit Calvin und Luther zu Rathe gehen.
Gewiss ist jedenfalls, dass noch die Griechen ihren Göttern keine angenehmere
Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit
welchen Augen glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die Schicksale der
Menschen niederblicken liess?] Vgl. NK 301, 10-12. Die Grundidee wurde schon
in M entwickelt: „Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und fest-
lich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet" (M 18,
KSA 3, 30, 16-18). Eine Vorlage dafür fand N. in den Thatsachen der Ethik (vgl.
Orsucci 1996, 183 f.; NK KSA 5, 74, 3-8 und NK KSA 3, 30, 5) von Herbert Spen-
cer, der eine sehr alte religionshistorische „Theorie" identifiziert, wonach „die
Menschen zu dem Zwecke geschaffen worden seien, um für sich selbst zur
Quelle des Unglücks zu werden, und dass sie verpflichtet seien, ihr Leben fort-
zusetzen, damit ihr Schöpfer die Genugthuung habe, ihr Elend anzuschauen.
[...] Alle niedriger stehenden Glaubensbekenntnisse sind von der Überzeugung
durchdrungen, dass der Anblick des Leidens für die Götter eine Freude sei:
Da diese Götter sich von blutdürstigen Vorfahren herleiten, so hat sich ganz
naturgemäss die Vorstellung von ihnen herausgebildet, als ob sie ein Vergnü-
gen daran fänden, Jemand Schmerzen zuzufügen: als sie noch in diesem Leben
herrschten, freuten sie sich der Qualen anderer Wesen, und so glaubt man, der
Anblick des Leidens mache ihnen jetzt noch Freude. Solche Grundvorstellun-
gen erhalten sich lange fort." (Spencer 1879, 31) Und Spencer ist ebenfalls der
Ansicht, dass diese archaischen Vorstellungen fortwirken, wenngleich sie in
„unsern Tagen [...] zweifellos mildere Formen angenommen" (ebd., 31, vgl. auch
105 f.). Dass das Weltgeschehen ein Schauspiel für Götter sei, ist ein ironisch-
theologisches Leitmotiv in N.s späten Werken, vgl. z. B. GM II 16, 323, 26-31 und
AC 39, KSA 6, 212, 25-30. Die in KSA 6, 212, 29 benutzte Formel „Schauspiel für
Götter" stammt ursprünglich aus Goethes Singspiel Erwin und Elmire: „Ein Schau-
spiel für Götter / Zwei Liebende zu sehn!" (Goethe 1853-1858, 8, 87).
Homer als Zeuge für die göttliche Freude an der Grausamkeit und am Un-
tergang der Menschen wird auch in MA II VM 189, KSA 2, 462 f. aufgerufen.
Doch wird zur Illustration Odyssee VIII 579 f. zitiert, wonach diese schreckli-
 
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