294 Zur Genealogie der Moral
sprechen, vgl. NK 299, 3-10). Immerhin gäbe es auch noch eine dritte Möglich-
keit, nämlich den Begriff „Personen-Verhältniss" so zu deuten, dass er gerade
nicht natürliche, beispielsweise verwandtschaftliche Beziehungen zwischen
Lebewesen adressiert, sondern von „Personen" erst dort handelt, wo Dritte,
Fremde ins Spiel kommen, mit denen man in einen nichtkriegerischen Aus-
tausch tritt.
Ein zweites Interpretationsproblem liegt darin, dass das „Verhältnis zwi-
schen Käufer und Verkäufer" und dasjenige zwischen „Gläubiger und Schuld-
ner" parallel geschaltet und gemeinsam als das älteste und ursprünglichste
Personenverhältnis behandelt werden. GM II 8 unterschlägt die fundamentale
Differenz zwischen diesen beiden Verhältnissen: Das Verhältnis von Käufer
und Verkäufer besteht im Normalfall darin, dass im Akt des Kaufes alle An-
sprüche ausgeglichen werden, also der Käufer seine Ware und der Verkäufer
seinen Preis bekommt (ganz unabhängig davon, ob der Kaufakt als Waren-
tausch oder in menschheitsgeschichtlich jüngerer Zeit als Geldgeschäft vollzo-
gen wird). Das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis hingegen erscheint entweder
als Spezialfall des Käufer-Verkäufer-Verhältnisses mit der Eigentümlichkeit,
dass der vereinbarte Preis für die Ware erst später entrichtet wird, oder aber
man sieht es als eigenständiges Verhältnis an, nämlich dort, wo nichts ver-
kauft, sondern nur etwas entliehen wird. Im Vergleich von Käufer-Verkäufer-
und Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zeigt sich, dass letzteres erheblich kom-
plexer ist und mehr Voraussetzungen enthält, nämlich insbesondere das zu
Beginn von GM II ja ausgiebig thematisierte Versprechen-Dürfen. Beim einfa-
chen Käufer-Verkäufer-Verhältnis hingegen ist weder das Versprechen-Dürfen
erforderlich, noch überhaupt eine Dimension der Zeitlichkeit oder des Erin-
nerns: Lieferung und Bezahlung erfolgen unmittelbar und gleichzeitig. Nur für
diesen Augenblick müssen die Geschäftspartner einander vertrauen, etwa kei-
ne faule oder falsche Ware untergejubelt zu bekommen, jedoch nicht für die
Zukunft. Im einfachen Käufer-Verkäufer-Verhältnis mag das Gedächtnis nütz-
lich sein (etwa, sich daran zu erinnern, dass einen der Verkäufer das letzte Mal
auch nicht betrogen hat), aber es ist für dieses Verhältnis nicht konstitutiv.
Mit der Parallelschaltung der beiden unterschiedlichen Verhältnisse von
Käufer und Verkäufer sowie von Gläubiger und Schuldner fingiert GM II 8 eine
Identität, die schlechterdings nicht gegeben ist. Nähere Betrachtung zeigt gera-
de, dass das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis viel weniger elementar ist als das
Käufer-Verkäufer-Verhältnis. Letzteres wiederum reicht vollständig aus als
Muster für das im Fortgang dieses Absatzes Erörterte, dass es nämlich in jeder
bekannten Form menschlicher Zivilisation üblich und charakteristisch sei,
dass Menschen „Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken,
tauschen" (306, 4 f.). Ja, eigentlich bestehe Denken zunächst nur darin. Jetzt
sprechen, vgl. NK 299, 3-10). Immerhin gäbe es auch noch eine dritte Möglich-
keit, nämlich den Begriff „Personen-Verhältniss" so zu deuten, dass er gerade
nicht natürliche, beispielsweise verwandtschaftliche Beziehungen zwischen
Lebewesen adressiert, sondern von „Personen" erst dort handelt, wo Dritte,
Fremde ins Spiel kommen, mit denen man in einen nichtkriegerischen Aus-
tausch tritt.
Ein zweites Interpretationsproblem liegt darin, dass das „Verhältnis zwi-
schen Käufer und Verkäufer" und dasjenige zwischen „Gläubiger und Schuld-
ner" parallel geschaltet und gemeinsam als das älteste und ursprünglichste
Personenverhältnis behandelt werden. GM II 8 unterschlägt die fundamentale
Differenz zwischen diesen beiden Verhältnissen: Das Verhältnis von Käufer
und Verkäufer besteht im Normalfall darin, dass im Akt des Kaufes alle An-
sprüche ausgeglichen werden, also der Käufer seine Ware und der Verkäufer
seinen Preis bekommt (ganz unabhängig davon, ob der Kaufakt als Waren-
tausch oder in menschheitsgeschichtlich jüngerer Zeit als Geldgeschäft vollzo-
gen wird). Das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis hingegen erscheint entweder
als Spezialfall des Käufer-Verkäufer-Verhältnisses mit der Eigentümlichkeit,
dass der vereinbarte Preis für die Ware erst später entrichtet wird, oder aber
man sieht es als eigenständiges Verhältnis an, nämlich dort, wo nichts ver-
kauft, sondern nur etwas entliehen wird. Im Vergleich von Käufer-Verkäufer-
und Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zeigt sich, dass letzteres erheblich kom-
plexer ist und mehr Voraussetzungen enthält, nämlich insbesondere das zu
Beginn von GM II ja ausgiebig thematisierte Versprechen-Dürfen. Beim einfa-
chen Käufer-Verkäufer-Verhältnis hingegen ist weder das Versprechen-Dürfen
erforderlich, noch überhaupt eine Dimension der Zeitlichkeit oder des Erin-
nerns: Lieferung und Bezahlung erfolgen unmittelbar und gleichzeitig. Nur für
diesen Augenblick müssen die Geschäftspartner einander vertrauen, etwa kei-
ne faule oder falsche Ware untergejubelt zu bekommen, jedoch nicht für die
Zukunft. Im einfachen Käufer-Verkäufer-Verhältnis mag das Gedächtnis nütz-
lich sein (etwa, sich daran zu erinnern, dass einen der Verkäufer das letzte Mal
auch nicht betrogen hat), aber es ist für dieses Verhältnis nicht konstitutiv.
Mit der Parallelschaltung der beiden unterschiedlichen Verhältnisse von
Käufer und Verkäufer sowie von Gläubiger und Schuldner fingiert GM II 8 eine
Identität, die schlechterdings nicht gegeben ist. Nähere Betrachtung zeigt gera-
de, dass das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis viel weniger elementar ist als das
Käufer-Verkäufer-Verhältnis. Letzteres wiederum reicht vollständig aus als
Muster für das im Fortgang dieses Absatzes Erörterte, dass es nämlich in jeder
bekannten Form menschlicher Zivilisation üblich und charakteristisch sei,
dass Menschen „Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken,
tauschen" (306, 4 f.). Ja, eigentlich bestehe Denken zunächst nur darin. Jetzt