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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0314
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Stellenkommentar GM II 8, KSA 5, S. 305 295

wird auch ausdrücklich zugestanden, dass „Kauf und Verkauf, sammt ihrem
psychologischen Zubehör, [...] älter" seien „als selbst die Anfänge irgend wel-
cher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände" (306, 14-17). Viel-
mehr habe erst später eine Übertragung des „keimenden[n] Gefühl[s] von
Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich [...] auf die gröbsten
und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe" (306, 18-20) stattgefunden. Das
bedeutet wohl nicht, dass man sich den Menschen ursprünglich als völlig ver-
einzeltes, autarkes Wesen vorstellen muss, das erst mühsam zu Gemeinschaft
findet, sondern, dass er aus der individuellen Käufer-Verkäufer-Erfahrung sein
Verhältnis zur Gemeinschaft ebenfalls in diesen Kategorien zu deuten beginnt.
Die Gewöhnung an Messen, Abschätzen, Preisbestimmen habe dann auch zu
Verallgemeinerungen geführt, die die ersten, rudimentären Begriffe von Ge-
rechtigkeit erzeugt hätten: „,jedes Ding hat seinen Preis" (306, 28).
GM II 8 schließt mit einer Rückverwandlung des ökonomischen Vokabulars
in ein machtkalkulatorisches: „Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute
Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich
durch einen Ausgleich wieder zu verständigen' — und, in Bezug auf weniger
Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen." (306, 32-307, 2)
Bedeutet Macht hier das Verfügen über Ressourcen, für die es einen Markt, für
die es Käufer gibt? Oder wie lässt sich beispielsweise physische Stärke blonder
Bestien dagegen aufrechnen? Ist sie ein ökonomischer Faktor, weil mit der Op-
tion verbunden, Unwillige zu Erwerb oder Veräußerung mittels Gewaltandro-
hung zu nötigen? Und wie passen dazu die Gläubiger, die nach den vorange-
gangenen Überlegungen eben gerade keine Herren, keine ,natürlich' oder an-
fänglich Mächtigen sind, sondern sich erst durch den Schmerz, den sie ihren
säumigen Schuldnern zufügen dürfen, ein Herrenrecht erobern, das ihnen zu-
nächst fehlte (vgl. NK ÜK GM II 5)? Mit der Gleichschaltung des Käufer-Verkäu-
fer- und des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses in GM II 8 und dem Postulat
einer basalen Ursprünglichkeit dieses Verhältnisses müssten die ursprüngli-
chen Gläubiger nun plötzlich doch wohl die ursprünglichen Herren sein - als
Verfügungsberechtigte über die hauptsächlichen Ressourcen. Wie können
dann Personen auftreten, die nicht dieser Herren-Gruppe angehören und sich
offenbar dennoch einen wesentlichen Teil des Kuchens gesichert haben? Diese
sekundären Gläubiger kommen ja augenscheinlich nicht nur vereinzelt vor,
sondern derart oft, dass sie bestimmen können, was ein Schuldverhältnis aus-
macht, nämlich Schmerz auf Seiten der Schuldner bei Nichtrückzahlung, und
Freude über das im Schmerzen-Zufügen greifbare Machtgefühl auf Seiten der
Gläubiger, die damit ihre soziale Ohnmacht kompensieren können (vgl.
GM II 5, KSA 5, 300, 2-4).
305, 28-306, 2 Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den
Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ur-
 
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