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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0315
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296 Zur Genealogie der Moral

sprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt,
gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und
Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person
an Person.] Vgl. NK 318, 28-32. Die Reduktion personaler Beziehungen auf Ver-
käufer-Käufer- und Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse mag auf manche Moral-
philosophen, die von der Ursprünglichkeit eines rein sittlichen, nicht ökono-
misch kontaminierten Personenverhältnisses ausgehen, verstörend wirken,
während sie zugleich das Herz jedes Homo oeconomicus höher schlagen lässt -
allerdings nur für die kleine Weile, in der GM II 8 die Hegemonie der ökonomi-
schen Betrachtung aufrechterhält, bevor diese am Ende des Abschnitts wieder-
um auf eine sehr viel allgemeinere Machtvergleichsperspektive zurückgeführt
wird (vgl. zum ökonomischen Aspekt auch Schneider 2002: Thorgeirsdottir
2016, 178 f.; Scharff 2012, 544 f.; Enkelmann 2012, 396 und Sedgwick 2007, 155-
157). Obwohl Autoren wie Post und Kohler sehr wohl und mit unterschiedlicher
Gewichtung obligationenrechtliche Verhältnisse für bedeutsam halten, um das
Zusammenleben von Menschen zu verstehen, vermeiden sie dennoch die Ver-
allgemeinerung, die zu Beginn von GM II 8 vollzogen wird. Stricker wiederum
nimmt einen quasi angeborenen, privatrechtlich grundierten Kontraktualismus
an: Für ihn stehen Menschen immer schon in Verträgen, in die sie auch durch
schweigende Zustimmung hineinwachsen (vgl. NK 299, 3-10). Aber das be-
wusste Abschließen von Verträgen beginnt ihm zufolge ebenfalls früh: „Die
Mutter sagt dem Kinde, es solle brav sein, dafür werde sie es lieb haben, ihm
Süssigkeiten geben und wie die Ver-/63/sprechungen alle heissen. Das Kind
seinerseits verspricht brav zu sein und fügt nicht selten die Vertragsbedingun-
gen hinzu, wie: ,Du wirst mich lieb haben, wirst mich mitnehmen' und andere
mehr. Tritt Jemand in ein Amt, in einen Verein oder in eine wie immer Namen
habende Verbindung von Menschen ein, so übernimmt er alle die Vertrags-
pflichten und Vertragsrechte, welche aus der Verbindung erfliessen. So werden
also alle auf den socialen Verkehr bezüglichen Bestandtheile meines potentiel-
len Wissens von Erfahrungen über Verträge und über den Werth derselben
durchsetzt. Der Vertragsbruch erschüttert also einen fundamentalen Bestand-
theil meiner gesammten Einlagerungen." (Stricker 1884, 62 f.) Der entscheiden-
de Unterschied zwischen Stricker und GM II 8 besteht aber eben darin, dass
der Rechtsphysiologe keineswegs Verträge auf die Gläubiger-Schuldner- oder
Verkäufer-Käufer-Verhältnisse eingeengt, sondern diese spezifischen Vertrags-
verhältnisse überhaupt nicht in den Blick nimmt. GM II 8 geht quasi von Stri-
ckers kontraktualistischer Verallgemeinerung aus und füllt sie mit dem konkre-
ten Gehalt der bei Post und Kohler diskutierten, aber nicht verallgemeinerten
Schuldverhältnisse. Vgl. NK 324, 26-30.
306, 2-7 Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in
dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde. Preise ma-
 
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