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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0375
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356 Zur Genealogie der Moral

men, namentlich seinen jüngeren, ein Erzeugnis, das bei N. öfter erbitterten
Widerspruch herausfordert: „Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer."
(Za I Vom neuen Götzen, KSA 4, 61, 6) Dieses eifrigen N.-Lesern natürlich be-
kannte Zarathustra-Wort könnte zum Fehlschluss verleiten, in GM II 17 solle
dem Staat noch weiter die Legitimation entzogen werden, indem seine für emp-
findliche moderne Ohren widerwärtigen Entstehungsumstände in grelles Licht
gestellt werden: Der Grausamkeitsverdacht wäre dann das, was N.s Sprecher-
„Wir" Staaten überhaupt, gleichgültig ob gegenwärtigen oder frühzeitlichen,
entgegenhielte. Das jedoch ist gerade nicht der Fall. Im Gegenteil liegt die Pro-
vokation der Staatsentstehungsthese von GM II 17 gerade darin, dass sie ins
Zentrum rückt, was der moderne Staat systematisch ausblendet, nämlich die
Grausamkeit als ursprüngliche Bedingung von Sozialisierung. Die implizierte
Kritik an moderner Staatlichkeit zielt gerade nicht darauf ab, dass sich dort
nach wie vor ,strukturelle Gewalt' und Grausamkeit notdürftig verdeckt mani-
festiere. Die Sprecherinstanz von GM II 17 ist weder Herbert Marcuse noch Fou-
cault. Die implizierte Kritik des Abschnitts richtet sich zunächst nur gegen das
naive, falsche Selbstverständnis moderner staatlicher Akteure und Legitimato-
ren, die den Ursprung ihrer Institution verkennen, indem sie sie auf Vertrag
und allseitige Nützlichkeit gegründet sehen. Wie bei anderen menschlichen
Einrichtungen auch müssen gemäß den genealogischen Überlegungen der vo-
rangegangenen Kapitel von GM Herkünfte und gegenwärtige Zwecke säuber-
lich unterschieden werden. Aus der Staatsentstehungsthese von GM II 17 folgt
aber auch noch nicht zwangsläufig eine Kritik an moderner Staatlichkeit, an
Demokratie und Massengesellschaft, wie sie N. andernorts vortrug. Aus der
(angenommenen) ursprünglichen Grausamkeit folgt nichts Normatives für die
(Sprecher-)Gegenwart - nur, dass man gut daran tut, das Grausamkeitspotenti-
al bei Angehörigen unserer Gattung nicht zu unterschätzen. Vor allem aber
zielt die Staatsentstehungsthese von GM II 17 auf die moralische Zimperlichkeit
der Moderne, der schon der Gedanke an Grausamkeit ein Abscheu erregendes
Ärgernis ist. Diese Staatsentstehungsthese dient dazu, die moralische Selbstsi-
cherheit von Gegenwartsmenschen zu erschüttern, die den Staat tendenziell
für eine moralische Anstalt halten. Könnte es nicht sein, fragt GM II 17, dass
der Staat mit den Maßstäben der geltenden Moral einst eine ganz und gar un-
moralische Anstalt war? Könnte es sein, dass die scheinbar so traumwandle-
risch sicheren moralischen Urteile des späten 19., aber auch die des 21. Jahr-
hunderts in Wahrheit nur sklavenmoralische Vorurteile sind?
Nach Conway 2008c, 47 f. gehe es N. in GM II 17 darum, eine strikt natura-
listische Erklärung für das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft zu geben.
Das setzt freilich erstens einen auf N.s Texte nur schwer applizierbaren (in
der anglophonen N.-Debatte der Gegenwart aber umso beliebteren) Begriff des
 
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