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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0380
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Stellenkommentar GM II 18, KSA 5, S. 325 361

bracht und vielleicht überhaupt erst die Schönheit..." (326, 17-19, vgl. auch
Harald Höffdings Gewissenskonzept, zitiert in NK 294, 28-295, 2). Skizzierte
GM II 17 eine ästhetische Rechtfertigung rücksichtsloser Staatsbildung durch
despotische Potentaten, so unternimmt GM II 18 eine ästhetische Rechtferti-
gung des schlechten Gewissens, dem eine schaffende Potenz zugeschrieben
wird, die in einem wohlgeformten Selbst oder großen Kunstwerken Gestalt ge-
winnen kann.
GM II 18 postuliert einen offensichtlich allen Angehörigen der menschli-
chen Spezies innewohnenden „Instinkt der Freiheit" oder „Wille[n] zur
Macht" (326, 2 f.). Wenn es so sein sollte, dass dieser Instinkt gleichermaßen
allen zukommt, er sich nur in unterschiedlicher Weise abreagiert, handelt sich
der Sprecher allerdings erhebliche Schwierigkeiten mit der von ihm öfter vor-
gebrachten Unterscheidung zwischen Starken und Schwachen ein (vgl. z. B.
280, 4-11 u. NK 384, 9-13). Denn wenn alle über diese aktive Kraft verfügen,
erscheint es doch in hohem Maße zufällig, woran sie sich abreagieren kann.
GM II 17 suggeriert zwar, das „Rudel blonder Raubthiere" (324, 21 f.) hätte sich
irgendwie zwangsläufig erobernd und staatsbildend durchsetzen müssen, aber
es ist ebenso leicht denkbar und historisch wahrscheinlich, dass diese Raubtie-
re mit ihrem aggressiven Unterfangen scheitern und dann gezwungen sind,
ihren Freiheitsinstinkt an sich selbst auszuleben. GD Die „Verbesserer" der
Menschheit 2 schildert, wie christliche Priester die „Germanen" so umgepolt
hätten, dass sie nun ihre Aggressionen an sich selbst ausließen (vgl. NK KSA 6,
99, 17-32). Wenn also die Chance, seinen Freiheitsinstinkt an anderen auszule-
ben, kontingent ist, dann wäre das Stark- oder Schwachsein in gleicher Weise
kontingent - es sei denn, es gäbe tatsächlich unterschiedliche Grade des fragli-
chen Instinkts, die entsprechend unterschiedliche Realisierungswahrschein-
lichkeiten haben. Und das ist genau der Ausweg, den die Sprecherinstanz von
GM II 18 wählt: Die „aktive Kraft" derjenigen, die keine „Gewalt-Künstler[.]"
sind, sei eben „kleiner, kleinlicher" (325, 29-31). Zur Interpretation von
GM II 18 vgl. z. B. White 1994, 67 f. im Blick auf Autonomie/Heteronomie. Lou
Andreas-Salome berichtet von entsprechenden Gesprächen mit N. über Prakti-
ken der Selbstquälerei: „Insofern als grausame Menschen immer auch Maso-
chisten sind, hängt das Ganze mit einer gewissen Bisexualität zusammen. Und
es hat einen tiefen Sinn -. Als ich zum ersten Mal im Leben mit jemandem dies
Thema besprach, war es Nietzsche (dieser Sadomasochist an sich selber). Und
ich weiß, daß wir hinterher nicht wagten, uns anzusehn." (Andreas-Salome
1983, 155 f.)
325, 31 und Staaten baut] Im Druckmanuskript stand stattdessen ursprünglich
nach einem Komma: „aber nach außen gewendet" (GSA 71/27,1, fol. 35r).
 
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