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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0403
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384 Zur Genealogie der Moral

„den sozialen Versager von eigener Schuld" freizusprechen. „Mehr noch, das
Leiden-Machen als Vergeltung für unretournierte Schulden wird verpönt, der
Bankrotteur kommt schmerzlos davon, ein Leidensausgleich findet nicht mehr
statt. Wenn es der Staat ist, der sich bis zum Bankrott überschuldet, heißt es
sogar, nicht der Schuldner, der Gläubiger ist schuldig." (Sloterdijk 2012, 610,
vgl. Sommer 2016h, 131 f.).
332, 9 f. Eine Schuld gegen Gott: dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug]
Die Formel „Schuld gegen Gott" kommt im theologischen Sprachgebrauch zu
N.s Zeit als Charakterisierung des Gottesverhältnisses häufig vor (vgl. z. B.
Ritschl 1870, 21; Dorner 1873, 171 u. 322). Reginster 2011, 57 (vgl. May 2011a, 5)
argumentiert, GM II 22 zeige hier die christliche Perversion eines natürlichen
Schuldbewusstseins. So sehr der Abschnitt gewiss das schlechte Gewissen
christlicher Ausprägung als besonders abwegige Art der Selbstquälerei dar-
stellt, ist doch festzuhalten, dass es nach der Exposition in GM II eben gerade
kein natürliches Schuldbewusstsein gibt, sondern jede Form von Schuldemp-
finden sozial indiziert und konditioniert ist. Eine auf natürlichem Schuldemp-
finden, auf natürlichen Schuldtatbeständen beruhende Moral lässt sich aus N.s
Text gerade nicht ableiten. Kiesel 2015, 67 findet die darin vorgetragene Kritik
am christlich-moralischen Schuldkomplex in jüngeren kognitiven Depressions-
theorien bestätigt (Aaron Beck, Lyn Yvonne Abramson u. a.).
332, 15 er spannt sich in den Widerspruch „Gott" und „Teufel"] Die allmähliche
Entwicklung der christlichen Vorstellung vom Teufel als eine Art Ersatzgläubi-
ger zeichnet Lippert 1882, 96-111 nach.
332, 19 Henkerthum Gottes] Im Dionysos-Dithyrambus Klage der Ariadne er-
scheint Dionysos zweimal als „Henker-Gott" (KSA 6, 399, 31 u. KSA 6, 401, 8,
vgl. NK 6/2, S. 646 u. 685), während in GD Die vier grossen Irrthümer 7 das
Christentum als „eine Metaphysik des Henkers" gilt (vgl. NK KSA 6, 96, 9 f.).
In Martin Luthers Tischreden heißt es: „Der Teufel ist unsers Herrn Gottes Hen-
ker." (Luther 1912, 1, 347). Im imaginären Trauerspiel des schlechten Gewissens
christlicher Sünder übernimmt Gott dieses Scharfrichteramt selbst, wenn er
denn nicht die Menschen zu „Selbsthenkern" macht (vgl. NK KSA 6, 390, 31 f.).
332, 29 „fixen Ideen"] Vgl. NK 295, 32-296, 5.
332, 30 f. „heiligen Gottes"] Zu Beginn von GM II 23 wird die Wendung noch
einmal prominent herausgestellt (333, 16 f.). M 68 (dazu ausführlich NK KSA 3,
64, 21) hat beim psychopathologisierenden Zugriff auf den Apostel Paulus und
angesichts dessen banger Frage, wie das jüdische Gesetz denn zu erfüllen sei,
vermerkt, die Juden seien ein „Volk, welches die Phantasie der sittlichen Erha-
benheit höher als irgend ein anderes Volk getrieben hat und welchem allein
 
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