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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0411
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392 Zur Genealogie der Moral

leumdet und verkannt" sowie „Lüge geheiligt" (335, 8 f.) worden ist, dann
müsste das ja auch für die Idealvernichtungs- und Idealerrichtungspraxis gel-
ten, die das „Ich" als Wünschbarkeit ins Auge fasst. Fällt sich also das spre-
chende „Ich" selbst ins Wort, indem es seinen eigenen moralgeschichtlichen
Aufriss als tendenziös, wirklichkeitsverzerrend, lügnerisch unter Verdacht
stellt? Ein weiteres Indiz für eine solche Selbstdistanzierung ist der Umstand,
dass das „Ich" sich gerade nicht selbst als den weltgeschichtlichen Umwerter
darstellt - das wird das „Ich" dann in den Schriften des Jahres 1888 tun -,
sondern vielmehr wie in Jenseits von Gut und Böse solche Umwerter (dort als
„Philosophen der Zukunft", vgl. z. B. NK 5/1, S. 302-304) erst in Aussicht stellt.
In der Sache geht freilich die Identifikation des sprechenden „Ich" mit dem
in Aussicht gestellten Ideal sehr weit: Zwar seien ,,[w]ir modernen Menschen"
(335, 14) die Nachfahren einer vieltausendjährigen Selbstquälerei, die es im-
merhin zu „Raffinement" (335, 17) gebracht habe. „Der Mensch" (335, 18) habe
sich angewöhnt, seine natürlichen Anlagen als böse zu qualifizieren und die-
sen ,„böse[n] Blick'" (335, 19) dann mit dem „,schlechten Gewissen'" (335, 20)
amalgamiert. An sich sei aber auch das Gegenteil möglich und denkbar, näm-
lich „alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidri-
gen, Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt
lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Ge-
wissen zu verschwistern" (235, 23-27). Und nun fragt das „Ich" weiter, an wen
man denn derartige „Hoffnungen und Ansprüche[.]" (335, 27 f.) adressieren
könnte. Die „guten Menschen" (335, 28) seiner Gegenwart kommen dafür
nicht in Frage. Vielmehr müssten es abenteuer- und eroberungslustige Geister
sein, „an Eis und Gebirge in jedem Sinne" (336, 9) Gewöhnte, ausgestattet mit
dem „letzten selbstgewissesten Muthwillen[.] der Erkenntniss" (336, 10 f.), ge-
segnet mit einer „grossen Gesundheit" (336, 13). Ob diese gegenwärtig
auch nur möglich sei, wird zweifelnd gefragt - künftig aber müsse „der erlö-
sende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist,
den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder weg-
treibt" (336, 16-19), schon kommen. Und er werde „uns" von allem Weltekel
und aller Nichtssehnsucht erlösen - „dieser Antichrist und Antinihilist, dieser
Besieger Gottes und des Nichts — er muss einst kommen..." (336, 31 f.).
Auffällig ist im Vergleich mit anderen Abschnitten von GM, dass auch die
Erste Abhandlung in den Schlussabschnitten GM I 16 und GM I 17 auf eine
Dichotomisierung und Aktualisierung hinausläuft. Auch dort gibt es ein schrof-
fes Entweder-Oder, wie es sich analog in den Abschnitten GM II 24 und 25
findet. Während die gelehrte Anmerkung am Ende von GM I (KSA 5, 288 f.) den
appellativen und aktualisierenden Charakter noch ein wenig abschwächt,
wirkt das Ende von GM II in dem überdehnten Prophetengestus wie eine Kari-
 
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