Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0412
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GM II 24, KSA 5, S. 334-335 393

katur - plötzlich wird aus der Geschichte nicht nur in die Gegenwart, sondern
auch in die Zukunft gesprungen (vgl. Richardson 2009, 148 f.), was GM I 17 erst
sachte erprobt hat. Jetzt wird von Heiligtümern, Erlösung und vom „schöpferi-
sche[n] Geist" (336, 17) gesprochen, als ob eine allgemeine mystische Verzü-
ckung ausgebrochen wäre. Aber was bedeutet „Erlösung" (336, 23) hier über-
haupt? Wird hier ironisch mit religiösen Versatzstücken gespielt, weil das
Christentum den von schlechtem Gewissen Geplagten die Erlösung verspro-
chen hat? Wovon genau soll nach GM II 24 erlöst werden? Vom schlechten
Gewissen, von der Verachtung des Natürlichen, von der Virtuosität, sich selbst
zu quälen und an die Kandare zu nehmen? Auch der Zukunftsgeist in „Eis und
Schnee" scheint ein asketischer Virtuose zu sein, der die Produktivität, mit sich
selbst hart zu sein, keineswegs leugnet. Würde, wer der Grausamkeit ab-
schwört, nicht lauter ,letzte Menschen' züchten? Und endlich: Wie verlässlich
ist der Eindruck, das ungehinderte Ausagieren der Triebe, der natürlichen Af-
fekte sei Selbstbejahung? Denn was kann an Natürlichkeit übrig geblieben sein
nach einer Jahrtausende währenden Geschichte der Verinnerlichung und des
schlechten Gewissens? Ist die Idee von einer wiederzugewinnenden Natürlich-
keit nicht bloß eine typisch kulturelle Chimäre? Wie soll man die Natürlichkeit
des angeblich Natürlichen bestimmen und messen?
335, 11-13 Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, muss ein Hei-
ligthum zerbrochen werden: das ist das Gesetz] Als historisch-archäolo-
gische Hypothese hat die Behauptung einiges für sich; in Jacob Burckhardts
Die Zeit Constantin's des Großen hätte N. beispielweise nachlesen können, wie
der titelgebende Kaiser heidnische Heiligtümer zerstören ließ, damit an deren
Stelle schließlich christliche treten konnten (Burckhardt 1853, 406-408). Na-
türlich wirkt es als Provokation, dass der Sprecher von GM II 24 ernstlich mit
dem Gedanken zu liebäugeln scheint, neue Heiligtümer zu errichten. Wäre
nicht der Abschied von allen Heiligtümern die angemessen nüchterne Haltung
gegenüber allen Zwangsideen, die im abendländischen Schuld-Gewissens-
Komplex ausgebrütet wurden? Oder würde sich eine solche definitiv alle Hei-
ligtümer schleifende Haltung nicht mit der Inthronisation Zarathustras vertra-
gen, die am Ende von GM II 24 und in GM II 25 proklamiert wird? Soll man das
als ironische Hypertrophie abbuchen?
335, 15 Gewissens-Vivisektion] Der Passus 335, 15-27 ist grundgelegt in einem
von N. stark korrigierten Notat KGW IX 5, W I 8, 53, 26-34 (fehlt in KSA und
findet sich dafür in WzM2 295). Auch an anderer Stelle wird dort die Gewissens-
vivisektion thematisiert: „Andererseits: unsere geistige Feinheit / ist wesent-
lich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden" (KGW IX 5, W I 8, 31, 8-10,
entspricht NL 1885/86, KSA 12, 2[207], 168, 19 f.). Zum Begriff der Vivisektion,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften