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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0455
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436 Zur Genealogie der Moral

von Samosata zugeschriebenen Dialog Cynicus (Kapitel 18) ist es der Kyniker,
der dem gewöhnlichen Volk vorwirft, sich dem Zorn auszuliefern, statt ihn ab-
zutöten: „Ein andermal ist es der Zorn, die Furcht, oder irgend ein anderer
Affekt, der euch mit sich fortreißt. Denn ihr lasset euch nicht von einem und
demselben, sondern zu verschiedenen Zeiten von sehr verschiedenen Pferden
dahingetragen: aber da sie alle den Koller haben, so rennen sie mit euch über
jähe Höhen in tiefe Gründe, und ihr stürzt, eh' euch ahnte, daß ihr stürzen
werdet." (Lucian 1827-1832, 15, 1812) Jedoch ist bei Lukian: Symposion 16 auch
von einem Kyniker namens Alkidamas zu lesen, der sich während eines Gast-
mahles völlig in lustvollem Zorn verliert (Lucian 1827-1832, 14, 1701). Auch die
sehr schroffen Umgangsformen, die der Vorzeigekyniker Diogenes von Sinope
an den Tag gelegt haben soll (Diogenes Laertius: De vitis VI 20-81), erwecken
manchmal den Eindruck, er sei ein zorniger Mann gewesen. Zu N.s eigenem
Verhältnis zum Kynismus siehe Niehues-Pröbsting 1980, Niehues-Pröbsting
1989, 306-340 und Niehues-Pröbsting 2005. N. selbst ist von Ludwig Stein
schon im Jahr 1893 selbst des „Neo-Cynismus" verdächtigt worden (Stein 1893,
1), dazu Sommer 2018c, 55-58. Während Stein in N.s angeblicher Kulturfeind-
lichkeit seine neokynische Stoßrichtung sieht, findet Nussbaum 1994, 152-154
just in GM III 7 ein die stoischen Souveränitätsimpulse noch übertreffendes,
kynisches Philosophenideal radikalisierter Bedürfnislosigkeit als N.s eigenes
Ideal wiedergeboren.
350, 1 remedium] Lateinisch: „Gegenmittel", „Heilmittel".
350, 6 f. von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Begabung
für Philosophie zu nehmen] Während im Werk N.s wiederholt die eminente Be-
gabung der Inder für spekulatives und radikales Philosophieren betont wird
(vgl. GM III 27, KSA 5, 409, 23-28), erscheinen die Engländer als „Flachköpfe[.]"
(GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 5, KSA 6, 114, 1). Die ironische Pointe ist,
dass Indien trotz seiner eminenten philosophischen Überlegenheit bei Erschei-
nen von GM eine britische Kronkolonie war. Vgl. NK 350, 25-28.
350, 18-20 Jedes Thier, somit auch la bete philosophe, strebt instinktiv nach
einem Optimum von günstigen Bedingungen] Dass Lebewesen nach den jeweils
bestmöglichen Lebensbedingungen streben, stand N. durch entsprechende
biologisch-ökonomische Lektüren vor Augen, namentlich durch Emanuel Herr-
manns Cultur und Natur: „Auf dem Wege der Reichlichkeit und Mannigfaltig-
keit gelangt die Natur durch fortwährende Selection zu einem späteren, vollen-
deteren Entwicklungsepochen angehörenden Principe, zu jenem der Erlan-
gung des Optimums durch Präcision." (Herrmann 1887, 267. N.s
Unterstreichung) Mit der französischen Bezeichung „bete philosophe", „philo-
sophisches Tier" stellt N. auch die Philosophen unter die gewöhnlichen Lebe-
 
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