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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0474
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Stellenkommentar GM III 9, KSA 5, S. 357 455

graphische Beschaffenheit des Erdbodens zu verändern und den durch göttli-
che Ordnung gesetzten Unterschied von Land und Meer anzutasten." (Ebd., 2,
83) Entsprechend kritisch werden etwa die gigantischen Unternehmungen von
Xerxes beurteilt: „Bei allem diesem wirkt neben dem Gedanken an die dem
Menschen gesetzte /84/ Schranke wohl noch ein Anderes mit, das Gefühl, dass
die Ordnung der Natur nicht weniger heilig sei als die sittliche und durch die-
selben Mächte geschützt werde" (ebd., 2, 83 f.). „Ueberall aber ist so viel deut-
lich, dass es den Griechen unmöglich war, in dem Flusse bloss eine unbelebte
Masse dahinströmenden Wassers zu sehen; daher ist es ein echt nationales
Gefühl, welchem Plutarch Ausdruck giebt, wenn er in seinem Bericht über die
Vorgänge vor der Schlacht bei Platää im Leben des Aristeides (16) erwähnt, die
Griechen hätten ihre Stellung verändert und eine Gegend mit gutem Wasser
aufgesucht, weil die in der Nähe ihres früheren Lagers befindlichen Gewässer
von den Barbaren bei Gelegenheit des Reiterkampfes mit Hybris behandelt und
verdorben worden waren (KaOvßpiaTO Kai öie^OapTo)" (ebd., 2, 86).
Den „Begriff der Hybris" wiederum hatte N. im ersten Band von Schmidts
Werk näher bestimmt gefunden als einen, „welcher ein Ueberschreiten der
dem /171/ Menschen überhaupt gesetzten Schranke zum Inhalt hat" (Schmidt
1882b, 1, 170 f.). So sei „auf dem sittlichen Gebiete [...] die Ueberschreitung des
Maasses, an das der Mensch gebunden ist, Hybris" - „zum Wesen der Hybris
gehört, dass sie das Ich zum Centrum zu machen und von den Bedingungen
seines und alles Daseins loszureissen sucht" (ebd., 1, 254, vgl. die zahlreichen
Beispiele ebd., 1, 255 f.). Die Pointe in GM III 9 ist die unverhohlene Positivie-
rung der Hybris. Dieser Abschnitt predigt nicht, dass wir vom rücksichtslosen
Umgang mit der Natur und uns selbst Abstand nehmen sollten; er propagiert
keine ökologische Ethik avant la lettre. Schlecht verträgt sich mit der - womög-
lich überraschenden - Positivierung der Übersteigerungsmoderne die von
Schmidt geltend gemachte Überlegung, dass nämlich erst die schöpfungstheo-
logische Einsetzung des Menschen als Herr dieser Erde in Juden- und Christen-
tum sie ermöglicht hatte (vgl. NK 282, 14).
357, 26-30 Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angebli-
chen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der
Ursächlichkeit — wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem
Elften sagen „je combats l'universelle araignee"] Vgl. NK KSA 6, 185, 2f. N.s
unmittelbare Quelle für diesen beim burgundischen Chronisten Jean Molinet
in seinen Faictz et Dietz überlieferten Ausspruch (Thatcher 1989, 595) Karls des
Kühnen, dass er im französischen König „die universelle Spinne" bekämpfe,
ist vermutlich Paul de Saint-Victors Aufsatzband Hommes et dieux. Dort heißt
es über Ludwig XL: „Sa politique etait equivoque et louche comme son carac-
tere, toute de police, d'inquisition, d'espionnage. Elle fit horreur ä ce que ce
 
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