464 Zur Genealogie der Moral
ist, dass der Staat als primäre Domestikationsanstalt bei der Besprechung des
asketischen Ideals kaum thematisiert wird - so, als käme dieser Staat nicht
ans Innenleben der Menschen heran. GM II hatte im Blick auf die Verinnerli-
chung der Triebenergie, die zum schlechten Gewissen führt, noch eine andere
Lesart nahegelegt: Die Etablierung staatlicher Strukturen als Etablierung aske-
tischer (Selbst-)Zwänge.
Auf die zweite Frage, warum die asketischen Priester überhaupt ein Prob-
lem darstellen, könnte man zu antworten geneigt sein, eigentlich seien sie kei-
nes, da sie nur diejenigen erreichten und mit ihrer lebensfeindlichen Ideologie
infizierten, die ohnehin schon am Leben litten. Da die Priester sich biologisch
nicht gerne selber reproduzieren (vgl. 363, 2f.), also die Fortschreibung, die
Fortexistenz des priesterlichen Typus prekär ist, liegt die Vermutung nahe,
dass nur diejenigen sich diesem Typus anverwandeln, die des Lebens bereits
überdrüssig sind. Gesunde könnten davon letztlich nicht affiziert werden, weil
ihnen der Leidensdruck fehlt. Für sie fiele die Motivationsgrundlage weg; ihr
Asketismus wäre Spleen. Wie also kann das asketische Ideal der Priester über-
haupt Wohlgeratenen gefährlich werden? Liegt dieses Ideal, wie N.s Sprecher-
instanz ja selber fragt, nicht womöglich sogar im Interesse des Lebens selbst -
im Sinne eines allgemeinen Ausgleichs oder, in darwinistischem Vokabular:
im Sinne der Selektion?
Soll 1994, 183 f. sieht in GM III 11 bis 13 zwei Hauptparadoxien des asketi-
schen Ideals verhandelt: Zum einen das „hedonistic paradox" eines als wohltu-
end empfundenen Schmerzes, zum anderen das „vital paradox" einer Lebens-
form, die gegen das Leben selbst kämpft. Michel Foucault hat nach Konoval
2013 seine Geschichte der Sexualität wesentlich auf N.s Analyse des asketi-
schen Priesters gegründet. Schrift 2006, 151-153 zeigt, wie Gilles Deleuze und
Felix Guattari ihre Kritik am Psychoanalytiker als dem Priester der modernen
Gesellschaft in Analogie zu GM III konstruiert haben: Die Praktiken der Psycho-
analyse erscheinen als exakte, zeitlich versetzte Parallelaktionen zu den in GM
analysierten Praktiken des Christentums.
361, 25-27 dass wir die Gegner jenes Ideales wären? eines solchen, der um seine
Existenz gegen die Leugner jenes Ideales kämpft?] KSA 5, 361, 26 korrigiert wie
z. B. auch Nietzsche 1972, 98 nach Karl Schlechta fälschlich „einen solchen"
aus „eines solchen" - offenbar eine stillschweigende, verschlimmbessernde
Emendation, während sowohl in der Erstausgabe (Nietzsche 1887a, 123) als
auch im Druckmanuskript (GSA 71/27,2, fol. 23r) eindeutig „eines solchen"
steht. Gemeint ist, dass „wir" Gegner desjenigen „wären", der gegen die „Leug-
ner jedes Ideales kämpft", also des asketischen Priesters.
ist, dass der Staat als primäre Domestikationsanstalt bei der Besprechung des
asketischen Ideals kaum thematisiert wird - so, als käme dieser Staat nicht
ans Innenleben der Menschen heran. GM II hatte im Blick auf die Verinnerli-
chung der Triebenergie, die zum schlechten Gewissen führt, noch eine andere
Lesart nahegelegt: Die Etablierung staatlicher Strukturen als Etablierung aske-
tischer (Selbst-)Zwänge.
Auf die zweite Frage, warum die asketischen Priester überhaupt ein Prob-
lem darstellen, könnte man zu antworten geneigt sein, eigentlich seien sie kei-
nes, da sie nur diejenigen erreichten und mit ihrer lebensfeindlichen Ideologie
infizierten, die ohnehin schon am Leben litten. Da die Priester sich biologisch
nicht gerne selber reproduzieren (vgl. 363, 2f.), also die Fortschreibung, die
Fortexistenz des priesterlichen Typus prekär ist, liegt die Vermutung nahe,
dass nur diejenigen sich diesem Typus anverwandeln, die des Lebens bereits
überdrüssig sind. Gesunde könnten davon letztlich nicht affiziert werden, weil
ihnen der Leidensdruck fehlt. Für sie fiele die Motivationsgrundlage weg; ihr
Asketismus wäre Spleen. Wie also kann das asketische Ideal der Priester über-
haupt Wohlgeratenen gefährlich werden? Liegt dieses Ideal, wie N.s Sprecher-
instanz ja selber fragt, nicht womöglich sogar im Interesse des Lebens selbst -
im Sinne eines allgemeinen Ausgleichs oder, in darwinistischem Vokabular:
im Sinne der Selektion?
Soll 1994, 183 f. sieht in GM III 11 bis 13 zwei Hauptparadoxien des asketi-
schen Ideals verhandelt: Zum einen das „hedonistic paradox" eines als wohltu-
end empfundenen Schmerzes, zum anderen das „vital paradox" einer Lebens-
form, die gegen das Leben selbst kämpft. Michel Foucault hat nach Konoval
2013 seine Geschichte der Sexualität wesentlich auf N.s Analyse des asketi-
schen Priesters gegründet. Schrift 2006, 151-153 zeigt, wie Gilles Deleuze und
Felix Guattari ihre Kritik am Psychoanalytiker als dem Priester der modernen
Gesellschaft in Analogie zu GM III konstruiert haben: Die Praktiken der Psycho-
analyse erscheinen als exakte, zeitlich versetzte Parallelaktionen zu den in GM
analysierten Praktiken des Christentums.
361, 25-27 dass wir die Gegner jenes Ideales wären? eines solchen, der um seine
Existenz gegen die Leugner jenes Ideales kämpft?] KSA 5, 361, 26 korrigiert wie
z. B. auch Nietzsche 1972, 98 nach Karl Schlechta fälschlich „einen solchen"
aus „eines solchen" - offenbar eine stillschweigende, verschlimmbessernde
Emendation, während sowohl in der Erstausgabe (Nietzsche 1887a, 123) als
auch im Druckmanuskript (GSA 71/27,2, fol. 23r) eindeutig „eines solchen"
steht. Gemeint ist, dass „wir" Gegner desjenigen „wären", der gegen die „Leug-
ner jedes Ideales kämpft", also des asketischen Priesters.