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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0501
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482 Zur Genealogie der Moral

Nichts, der Nihilismus" (368, 11 f.) brächen sich Bahn. Die „Schwächsten
sind es, welche am Meisten das Leben unter Menschen unterminiren, welche
unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergif-
ten und in Frage stellen" (368, 21-24). Die „Selbstverachtung" (368, 31f.), die
sie plagt, versuchen sie allen anderen einzupflanzen; sie gäben sich den An-
schein der „Tugend" (369, 17) und täten so, „als ob Gesundheit, Wohlgerathen-
heit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die
man einst büssen, bitter büssen müsse" (369, 22-24). Wohin man blicke, entde-
cke man den „Kampf der Kranken gegen die Gesunden" (370, 12 f.) - in der
Familie, wo sich das „kranke Weib" (370, 6) unrühmlich hervortue ebenso wie
in der Wissenschaft, wo Eugen Dühring den „Rache-Apostel" (370, 21) mime.
Die Strategie der „Menschen des Ressentiment" (370, 25) besteht darin, den
Gesunden, Glücklichen ihr Glück madig zu machen, „so dass diese sich eines
Tags ihres Glücks zu schämen begönnen" (370, 33 f.). Damit das nicht ge-
schieht, müssten „die Gesunden von den Kranken abgetrennt bleiben, be-
hütet selbst vor dem Anblick der Kranken, dass sie sich nicht mit den Kranken
verwechseln" (371, 10-13). Keineswegs sei es die Obliegenheit der Gesunden,
die Kranken zu pflegen oder zu therapieren; „das Höhere" dürfe sich nicht
„zum Werkzeug des Niedrigeren herabwürdigen" (371, 15-17), denn ihre Aufga-
be liegt in der Gestaltung der „Menschen-Zukunft" (371, 22), deren Besorgung
augenscheinlich nichts mit der Verbesserung der Situation der Leidenden zu
tun hat. Das sprechende „Wir", das sich ganz selbstverständlich zu den Gesun-
den zählt, will entweder ausschließlich seinesgleichen zur Gesellschaft oder
aber in die „Einsamkeit" (371, 28 f.) fliehen, um sich zu wappnen: „gegen die
zwei schlimmsten Seuchen [...], die gerade für uns aufgespart sein mögen, —
gegen den grossen Ekel am Menschen! gegen das grosse Mitleid
mit dem Menschen!..." (371, 32-372, 2).
Die Argumentation von GM III 14 ist sonderbar: Wenn die „Gesunden"
wirklich gesund sind, müsste es für sie doch ein Leichtes sein, entsprechende
Widerstandskräfte gegen eine mögliche Ansteckung zu entwickeln. Wenn sie
hingegen nicht stark genug sind, den Kranken und der Krankheit zu trotzen,
ist es mit ihrer Gesundheit offensichtlich nicht weit her.
Die Fragen potenzieren sich: Warum sollten die „Gesunden" überhaupt in
Versuchung geraten, Ekel und Mitleid zu empfinden? Von welchem lebenswelt-
lichen oder geschichtlichen Befund geht der Sprecher aus, wenn er den Star-
ken die Anfälligkeit für Selbstherabsetzung attestiert? Von den Erbaristokraten
des 19. Jahrhunderts, die die Selbstverständlichkeit ihrer eigenen Legitimation
völlig verloren haben und sich ständig unter Rechtfertigungsdruck wähnen?
Von frühneuzeitlichen Großbürgern, die sich in die reformatorische Zerknir-
schungstheologie hineinkomplimentieren ließen? Von der spätantiken Senato-
 
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