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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0507
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488 Zur Genealogie der Moral

sehen Werken wie Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (Hart-
mann 1869, 206) und Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus
(Lange 1887, 21 zu Demokrit: „Die Glückseligkeit besteht in der heitern Ruhe
des Gemüths, die der Mensch nur durch Herrschaft über seine Begierden
erlangen kann. Mässigkeit und Reinheit des Herzens verbunden mit Bildung
des Geistes und Entwicklung der Intelligenz geben jedem Menschen die Mittel,
trotz aller Wechselfälle des Lebens dies Ziel zu erreichen").
370, If. die Species der moralischen Onanisten und „Selbstbefriediger"] Offen-
sichtlich zieht diese Art Menschen aus ihrer vermeintlichen moralischen Über-
legenheit einen rein egozentrischen Lustgewinn. Bewusst ist eine sexuelle Ter-
minologie gewählt, zurückbezogen auf die „verhunzte Sinnlichkeit" (369, 33 f.),
die die Betreffenden auch moralisch diskreditiert. Die einzige weitere Stelle, an
der bei N. sonst noch von Masturbation unverhüllt die Rede ist, steht im Ent-
wurf zu einem Vorwort zur Neuauflage von M. Es klingt dort so, als habe sich
sprechende Autor-„Ich" selbst im Verdacht, damals der masturbatorischen
Selbstgenügsamkeit anheimgefallen zu sein, wenn auch nur „ironisch": „Ich
zweifle nicht: es war der Zustand des Weisen, wie ihn das Volk sich / denkt,
über den ich damals mit einer ironischen Selbst=Überlegenheit hinweglebte. /
: die sanfte Unfruchtbarkeit und Selbstbefriedigung des Weisen, wie ihn 'sich'
das Volk denkt, das "Abseits u. Jenseits' des ,Rein-Erkennenden', wie ihn selbst
Philosophen -^esehriebeR-haben, dieser 'der ganze™ sublime Onanismus des
eines Geistes, dem der gute Wille zum Schaffen, zur Zeugung, rzur That, zur
Zeugung, zum Schaffen™ i[n] großem 'jedem™ Sinne fehlt abhanden gekom-
men / ist" (KGW IX 5, W I 8, 68, 8-17 [Das Notat ist durchgestrichen], vgl.
NL 1885/86, KSA 12, 2[164], 146, 18-25). Politycki 1989, 426, Fn. 255 glossiert
dazu: „Sollte etwa die ganze Philosophie des Schaffens nur - ?" Richard Wag-
ner hat 1877 gegenüber dem N. behandelnden Arzt den Verdacht geäußert, N.s
gesundheitliche Leiden gründeten in übermäßiger Onanie, was N., als es ihm
zu Ohren kam, sehr erbost hat (vgl. Janz 1978, 2, 173-175). Angesichts all der
Schauermärchen, die über die Folgen der Onanie damals verbreitet waren,
klingt das von N. auch selbsttherapeutisch genutzte Buch vom gesunden und
kranken Menschen, bei aller Ablehnung der Onanie, geradezu aufklärerisch:
„Die Selbstbefleckung (Onanie, Masturbation) [...] ist aber zur Zeit beim
männlichen, weit weniger beim weiblichen Geschlechte eine sehr verbreitete
Unart. Daß durch dieselbe die Kraft und Lebensfrische eines guten Theiles un-
serer jetzigen Generation schon in der Jugend untergraben wird, ist gewiß, al-
lein daß die Folgen der Onanie so schlimme wären, wie sie in vielen Büchern
(zumal in solchen nichtsnutzigen Schriften, wo gleichzeitig Geheimmittel ge-
gen das männliche Unvermögen empfohlen sind) /801/ geschildert werden,
ist unwahr. Schon sehr oft wurden durch solche übertriebene Schilderungen
 
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