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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,2): Kommentar zu Nietzsches "Zur Genealogie der Moral" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.70912#0582
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Stellenkommentar GM III 24, KSA 5, S. 396-397 563

nen als erstes genannte Wissenschaftler-Gruppe, nämlich „jene seltneren Fäl-
le" (398, 4), die von harter Leidenschaft beseelt sind, „vielleicht die gesuchten
Gegner des asketischen Ideals, dessen Gegen-Idealisten" (398, 6-8) ver-
körpern. GM III 23 hat doch schon herausgestellt, dass sie es nicht seien, son-
dern im Gegenteil selbst dem asketischen Ideal verpflichtet blieben, wenn-
gleich noch nicht klar benannt wurde, inwiefern dies der Fall sein soll. Das
holt GM III 24 nach, beginnend beim „Glaube[n]" dieser „,Ungläubigen"' (398,
9 f.), sie seien tatsächlich die Feinde des asketischen Ideals. Gerade dieser
Glaube weckt das Misstrauen des „Wir", das hier an die Stelle des in GM III 23
dominierenden „Ich" tritt, da ein fester Glaube gerade ein starkes Indiz dafür
darstelle, dass das Geglaubte unwahrscheinlich sei (ausführlich entwickelt
wird die „Psychologie des ,Glaubens', der ,Gläubigen'" dann in AC 50 bis 55,
KSA 6, 229-239, dazu NK 6/2, S. 233-265). Diese scheinbar so „freien Geister"
(399, 3) sind nicht, was sie zu sein wähnen, „denn sie glauben noch
an die Wahrheit..." (399, ll f.). Sie bringen nicht zustande, was einst den
Assassinen gelungen sei, nämlich den Glauben an die Wahrheit aufzukündi-
gen. Dieser „unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube an das as-
ketische Ideal selbst" (400, 9-11). Wobei noch im selben Satz die Erläute-
rung nachgeschoben wird, es handle sich um einen „unbewusste[n] Imperativ"
(400, 11), und dieser Glaube sei derjenige „an einen metaphysischen
Werth, einen Werth an sich der Wahrheit" (400, 12-14).
Unter Rückgriff auf FW und M Vorrede soll diese Erkenntnis plausibilisiert
werden, mit dem Hinweis darauf, dass Gott und Wahrheit die längste Zeit über
identifiziert worden seien, mit dem Tod Gottes diese Identifikation jedoch hin-
fällig geworden sei und die Wissenschaft nun eine neue „Rechtfertigung" (401,
11) nötig habe. Das „Wir" bestimmt es jetzt als seine „eigene Aufgabe", den
„Werth der Wahrheit [...] versuchsweise einmal in Frage zu stellen" (401,
24 f.).
So eingängig das Ineinander-Blenden des wissenschaftlichen Wahrheits-
willens und des asketischen Ideals nach 150 Jahren metaphysikkritischen und
dekonstruktiven Trainings im 21. Jahrhundert auch anmutet, ist doch nicht zu
verkennen, dass es etliche Schwierigkeiten aufwirft, über die das „Wir" mit
Selbstzitaten hinwegkomplimentiert. Zunächst einmal stünde jede Form der
Konzentration, der Fokussierung auf Eines unter zwangsläufiger Vernachlässi-
gung all dessen, was es sonst noch in der Welt gibt, im Verdacht der Kontami-
nation durch das asketische Ideal. In ihrer Leidenschaft wollen die wenigen
Wissenschaftler nur das Eine - eben die Wahrheit - und sind bereit, dafür
größte Opfer zu bringen. Jedoch müssen sie keineswegs zwangsläufig an eine
Wahrheit glauben, die irgendetwas mit Gott zu tun hat - die platonisierend-
christliche Gleichsetzung war selten mehr als eine Metapher; sie müssen nicht
 
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